Sunday, November 26, 2023

Linksdrall bei den Grünen mit Gefahr des Ampelsturzes

RP ONLINE • 22 Mio. Vier Tage befassen sich die Grünen bei ihrem Bundesparteitag in Karlsruhe mit der Aufstellung für die Europawahl. Sie wählen nicht nur vornehmlich Kandidaten vom linken Flügel auf ihre Liste, sie wagen auch inhaltlich den Aufstand. Leidenschaftlicher Appell von Außenministerin Annalena Baerbock am späten Samstagabend beim Parteitag in Karlsruhe. Kaum einer ist an vier Tagen Grünen-Bundesparteitag derart präsent, wie einer, der gar nicht da ist: Friedrich Merz, der CDU-Chef, wird alle paar Minuten in einen Redebeitrag eingebaut. „Mehr Herz, weniger Merz“, hat Parteichef Omid Nouripour schon bei der Eröffnung als Losung ausgegeben. Danach gilt der Oppositionsführer als Sparringspartner für nahezu alle Politikbereiche. „So macht man das, Herr Merz“, wird zur Standard-Unterstreichung für alternative Ansätze der Grünen. Um ein Haar bringen die Delegierten dann jedoch Merz in die Regierung. Am späten Samstagabend warnt Vizekanzler Robert Habeck in emotional aufgewühlter Stimmung vor einem umjubelten Antrag der Grünen Jugend zur Migrationspolitik: „Es ist ein Misstrauensvotum in Verkleidung, das in Wahrheit sagt: Verlasst die Regierung!“ Wenn die Initiative Erfolg habe, werde es zur großen Koalition kommen, und dann ändere sich erst recht nichts. Es ist zwar der spektakulärste, aber nicht der erste Versuch, die eigenen Regierungsleute von links aus dem Tritt zu bringen. Mit großer Verärgerung verfolgt Außenministerin Annalena Baerbock, wie eine Mehrheit Konrad Adenauer aus dem Europawahlprogramm streicht. Er hatte dort als Beleg für die Vision eines Europas stehen sollen, die heute für alle Europäer zur Notwendigkeit geworden sei. Doch der erste Kanzler der Republik steht unter grünem Generalverdacht wegen seiner Personalpolitik, keine Frauen, aber Nazis mit Regierungsaufgaben zu betraut zu haben. Und auch Wirtschaftsminister Habeck macht wenig später eine Mehrheit das Leben schwer, indem sie sich gegen das Mercosur-Abkommen ausspricht. Gewöhnlich wird derartiges vereinzeltes Aufbegehren der Basis gegen die Vorschläge des Vorstandes als „Ventil“ beschrieben. Luft ablassen, damit am Ende bei einem Parteitag dann doch die Einigkeit steht. Und die Richtung. Doch die stimmt für die Grüne Jugend beim Thema Asyl und Migration ganz und gar nicht. Längst sollte die mit Spannung erwartete Debatte beginnen. Doch die Regie spielt auf Zeit. Denn hinter den Kulissen wird immer noch verhandelt. Wie schon seit Wochen. Der Vorstand macht Zugeständnis um Zugeständnis, um den offenen Aufruhr zu verhindern. So verzichtet er bei der Positionierung der Partei auf die Feststellung, dass bei erschöpften Kapazitäten „durch rechtsstaatliche und menschenwürdige Maßnahmen auch die Zahlen sinken“ müssten. Doch es hilft nicht. Auch nicht der Appell von Nouripour, dass von einer Regierungspartei Lösungen von Problemen und nicht der Austausch von Narrativen erwartet würden. Auch nicht sein angeführtes Zitat des Schriftstellers Umberto Eco, wonach es zwar auf jede komplizierte Frage eine einfache Antwort gebe, die aber meistens falsch sei. Für die Grüne Jugend gibt es zu dem komplexen Feld der Migrationspolitik eine einfache Antwort: Alle ihre Minister und Abgeordneten sollen keiner Verschärfung mehr zustimmen dürfen, nicht restriktiveren Rückführungen, nicht Kürzungen von Sozialleistungen, nicht abgesenkten Schutzstandards, nicht der Ausweitung sicherer Herkunftsstaaten, nicht Schnellverfahren an Außengrenzen, nicht Zurückweisungen, kurz: keinem der Kompromisspakete, die gerade in Bund, Land und Europa geschnürt werden. Die Annahme, diese Vorgabe ohne Austritt aus der Regierung einhalten zu können, nennt Habeck „naiv“. Er versucht, die Delegierten zu überzeugen mit dem Versprechen, dass die Stimmung auf diesem Parteitag bereits Konsequenzen habe: Die Vertreter der Grünen würden in allen Verhandlungen sich noch mehr stets vor Augen halten, was die Partei zusammengeführt habe. Es gibt verhaltenen Beifall dafür. Der Applaus wird immer dann stürmisch, wenn Redner für den Ihr-dürft-nicht-mehr-zustimmen-Antrag der Grünen Jugend Stimmung machen. „Stimmt gegen die Aushöhlung des individuellen Rechts auf Asyl“ oder „Die Antwort auf den Rechtsruck ist nicht, den Faschisten immer mehr entgegenzukommen“ oder „Wir machen Politik aus Liebe zu allen Menschen und nicht aus Liebe zum Koalitionspartner“ sind Ausrufe, die frenetisch bejubelt werden. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt beschwört den Parteitag, die vom Bundesvorstand vorgeschlagene Asylpolitik mit Humanität und Ordnung zu unterstützen. Ordnung heiße auch, das illegale Zurückschicken von Flüchtlingen zu unterbinden, heiße auch, die Seenotrettung nicht zu kriminalisieren. Aber auch bei den letzten Redebeiträgen bleibt es zumindest ungewiss, wer sich hier durchsetzen kann. Buchstäblich in letzter Minute gelingt es Baerbock, die Stimmung zu wenden. Sie führt den Delegierten vor Augen, was dieser Antrag bedeute: Dass sich NRW-Ministerin Josefine Paus immer von Verhandlungen über die Migration zurückziehen und Bayerns CSU-Innenminister Joachim Herrmann das Feld überlassen müsse. Dass sie selbst sich immer in Europa von den Verhandlungen zurückziehen müsse, um ihrem ungarischen Amtskollegen das Feld zu überlassen. „Aber Robert soll da nicht rausgehen“, ruft sie - und erntet nun ihrerseits großen Jubel. Wenig später zeigt es sich bei der Abstimmung. Eine deutliche Mehrheit des Parteitages will das auch nicht.