Tuesday, October 19, 2021

Bundestagspräsident: Doch eine Rückschrittskoalition?

ZEIT ONLINE Bundestagspräsident: Doch eine Rückschrittskoalition? Jana Hensel vor 14 Std. Ginge es nach den Männern der SPD, würden die Spitzenämter des Staates in Zeiten einer Ampel-Koalition ausschließlich in Männerhand sein. Fortschritt sieht anders aus. Die fünf wichtigsten Ämter des Staates könnten bald mit Männern besetzt sein – unter anderem mit Olaf Scholz als Kanzler.Man kann den Wahlkampf im Rückblick natürlich auch so erzählen: Die Grünen haben als einzige Partei Gleichberechtigung ernst genommen und dadurch die Bundestagswahlen verloren. Vor die Entscheidung zwischen einem erfahrenen Mann (Olaf Scholz) und einer eher unerfahrenen Frau (Annalena Baerbock) gestellt, entschieden sich die Wählerinnen und Wähler für Ersteren. Klimakrise hin oder her. Irgendwie war das ja absehbar. Die SPD hat also von dem Wunsch nach Gleichberechtigung mehr profitiert als die Grünen selbst. Ihr wurde so und durch das ständige Gerangel zwischen Armin Laschet und seinem Konkurrenten Markus Söder ein Wahlsieg geschenkt, den sie mit eigenen personellen und inhaltlichen Mitteln wohl schwerlich errungen hätte. Ein höherer Mindestlohn ist eine sozialpolitisch richtige Forderung, eine Regierung trägt ein solches Vorhaben natürlich noch lange nicht. Eine künftige Gesellschaft auch nicht. Wie die Sozialdemokraten mit der ihr nun so überraschend verliehenen Macht umgehen wollen, das wird eine der großen Fragen der künftigen Regierung werden. Man muss den Grünen im Nachhinein also für die Baerbock-Entscheidung fast dankbar sein: Sie wahrten die Fassade, sie sorgten zumindest für einen schönen Schein. Durch ihre Kandidatur haben sich nach Angela Merkel nicht nur Männer um die Kanzlerschaft beworben. Durch sie treten nun nicht nur Männer (Olaf Scholz, Christian Lindner, Robert Habeck) nach den Sondierungen vor die sorgsam aufgereihten Mikrofone, um den Fortgang der Gespräche zur Bildung einer sogenannten Fortschrittskoalition zu verkünden. Mehr noch, eine derartige Selbstbeschreibung würde ohne Baerbock wie Hohn klingen, sie hätte sich schon im ersten Augenblick als hohle Phrase entlarvt. So weit, so gut. Lange Vorrede, kurzer Sinn. Mehr als drei Wochen nach der Bundestagswahl hat man nämlich den Eindruck, die SPD (und die FDP in Teilen auch) will wie im Wahlkampf weitermachen. Sie will die Gleichberechtigungsfrage einfach weiterhin bei den Grünen abladen. Anders jedenfalls ist nicht zu erklären, dass die Partei von Olaf Scholz den bisherigen Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich als künftigen Bundestagspräsidenten in Erwägung zieht. Dann lägen zukünftig die fünf wichtigsten Ämter im Staat in den Händen von Männern: das des Kanzlers, des Bundespräsidenten, des Präsidenten des Verfassungsgerichts, des Bundesratspräsidenten und, wie gesagt, auch noch das des Bundestagspräsidenten. Der oder die Parlamentsvorsitzende entstammt stets der stärksten Bundestagsfraktion. Die so viel gelobte SPD-Wahlkampagne entpuppt sich damit als der bereits zweite schöne (Gleichberechtigungs)-Schein des Wahlkampfs. Auf einem der Plakate hatte doch gestanden: Er (Olaf Scholz) kann Kanzlerin. War das wirklich mehr als nur die zugegeben sehr originelle Idee einer Werbeagentur? Außerdem hatte Scholz ebenfalls versprochen, sein zukünftiges Kabinett paritätisch besetzen zu wollen. War das wiederum nur ein Taschenspielertrick? Weil der Posten des Bundestagspräsidenten natürlich nicht Teil einer solchen Rechnung ist und demnach wie selbstverständlich an einen Mann vergeben werden kann? Um es einmal klar zu sagen: Diese ganzen Rechnereien können einem natürlich furchtbar auf die Nerven gehen. Denn Emanzipation und Gleichberechtigung sind selbstredend weit mehr als nur die Frage nach personeller Repräsentanz. Sie umfassen auch Frauenrechte und strukturelle Gleichberechtigungsmaßnahmen. Aber mit einer derartig rückschrittlichen Personalpolitik zwingt ein möglicher künftiger Kanzler Scholz die feministisch denkende Gesellschaft, bereits bei solchen eigentlich längst geklärten Dingen zu protestieren. Jutta Allmendinger, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, hatte ihren Unmut gestern bereits in einem offenen Brief kundgetan. "Aufruf an die SPD-Bundestagsfraktion: Es braucht eine Frau als Bundestagspräsidentin!" So richtig diese Intervention ist, dass sie bei einer sozialdemokratisch angeführten Regierung notwendig wird, hat auch etwas Demütigendes. Für beide Seiten. Warum ist es nicht möglich, die Vielheit unserer Gesellschaft auch ohne steten öffentlichen Druck in der politischen Realität abzubilden? Zumal sich die Debatten seit Jahren im Kreis drehen. So war Franziska Giffey vor vier Jahren vor allem deshalb zur Familienministerin ernannt worden, weil die ostdeutsche Öffentlichkeit laut protestierte, nachdem sich abgezeichnet hatte, dass neben der Kanzlerin kein anderes Mitglied der Bundesregierung aus dem Osten stammen würde. So waren die Grünen jüngst enorm kritisiert worden, dass in ihrem zehnköpfigen Sondierungsteam ausschließlich Menschen ohne Migrationsgeschichte saßen. All das Reden von der offenen, emanzipierten, gleichberechtigten Gesellschaft der vielen bricht eben noch allzu oft an der politischen Alltagspraxis. In diesem Licht betrachtet sind solche Repräsentationsfragen eben doch von großer Wichtigkeit. Denn der Ausschluss von Teilgruppen der Gesellschaft von realer politischer Macht produziert weit mehr als Verdruss: Er führt zu Ungleichheit und zementiert letztlich Ungerechtigkeit. "Respekt" lautete der Wahlslogan der SPD. Diese erste leidliche Personaldebatte um den Posten der Bundestagspräsidentin oder des Bundestagspräsidenten widerspricht im Prinzip den Maßstäben, die sich Olaf Scholz selbst gestellt hat. Er sollte sich an seinen eigenen Worten messen lassen. Denn Respekt ist ein hohes Gut. Er ist nur schwer zu erarbeiten, aber leicht zu verspielen. Welche Partei, wenn nicht die SPD, kann davon ein langes Lied singen.