Tuesday, August 31, 2021

Die US-Soldaten sind weg und Außenminister Heiko Maas umkreist Afghanistan als Bittsteller.

Die US-Soldaten sind weg und Außenminister Heiko Maas umkreist Afghanistan als Bittsteller. Die Angst vor Geflüchteten scheint größer als die Sorge um Zurückgelassene. Von Außenminister Heiko Maas war in der vergangenen Woche zu erfahren, er verschwende "keine Sekunde und keinen Gedanken" an seine politische Zukunft. Ein Rücktritt, wie ihn so viele angesichts des Debakels um die Evakuierungsmission für deutsche Staatsbürger in Afghanistan und afghanische Kräfte vor Ort längst fordern, kommt offenbar nicht infrage – er würde auch nicht wirklich etwas an der Lage ändern, in die sich die westlichen Mächte mit ihrem überstürzten Abzug gebracht haben und die durch Fehleinschätzungen und Verzögerungen auch der deutschen Regierung noch einmal schwieriger geworden ist. Maas hat also anderes zu tun, geringer ist der Druck auf ihn nicht geworden. Denn jetzt sind sie alle weg. Die Bundeswehr musste ihren Einsatz bereits am Donnerstag beenden, die USA zogen unter größter Gefahr bis zum Ende durch, doch die militärische Luftbrücke bricht mit dem Rückzug der letzten Soldaten und Soldatinnen ab. Der Plan für die nächste Phase: mühsame Diplomatie – "und zwar so lange bis alle in Sicherheit sind, für die wir in Afghanistan Verantwortung tragen", hat Maas versichert. Mehr als 10.000 Menschen stehen noch auf den Listen des Auswärtigen Amtes, auch mehr als 400 Deutsche sollen noch im Land sein. Die Zahl derer, die weiter darauf hoffen, außerhalb von Afghanistan Schutz zu finden, weil sie etwa für die abziehenden Deutschen gearbeitet hatten oder sich für Frauenrechte einsetzten und nun die Rache der Taliban fürchten müssen, dürfte deutlich höher liegen: Nicht alle werden sich gemeldet haben, und mit Angehörigen kommen schnell einige Zehntausend zusammen, davon geht auch das Bundesinnenministerium aus. Menschen, denen die deutsche Regierung einen Weg in die Sicherheit versprochen hat, der nun erst einmal abgeschnitten ist. Die selbst im Moment nicht viel mehr tun können als irgendwie überleben. "Noch Wochen und wahrscheinlich Monate" Auch Maas, der seit Sonntag die Nachbarschaft Afghanistans bereist, um die Ausreisebedingungen für Schutzbedürftige zu verbessern, weiß: Eine schnelle Lösung wird es nicht geben. "Das ist ein Thema, das uns noch Wochen und wahrscheinlich auch Monate beschäftigen wird", sagte er am Montag nach Gesprächen in Usbekistan. Denn es gibt zwar die Zusage von den Taliban, dass weiterhin Menschen das Land verlassen können, mit "gültigen Dokumenten" – was immer das heißt. Verlassen kann sich darauf aber niemand, auch eine entsprechende UN-Resolution wird daran nichts ändern, die eine ungehinderte Ausreise einfordert. Ebenso wenig ist garantiert, dass der Flughafen von Kabul nach dem Abzug der Soldaten kurzfristig weiterbetrieben werden kann. Die westlichen Regierungen wollen erreichen, dass er offen bleibt oder in einem laut US-Außenminister Antony Blinken "angemessenen Zeitraum" wieder geöffnet wird. Unter anderem die Türkei und Katar könnten helfen, den Flugbetrieb zumindest für Chartermaschinen zu ermöglichen. Die Taliban wollen solche Unterstützung gern annehmen, damit der schwer beschädigte zivile Teil des Airports wieder hergerichtet werden kann. Wie das gehen kann und wann, ist angesichts der Sicherheitslage völlig offen. Vor allem weil die neuen Herrscher keinerlei ausländische Militärpräsenz mehr zulassen wollen und etwa der Türkei vorgeschlagen haben, sie solle allein den operativen Teil übernehmen, für die Sicherheit sorge man selbst. Auch mit Katar verhandeln die Taliban, mit einer unmittelbaren Einigung ist aber kaum zu rechnen. Oder wie der Sprecher des US-Außenministeriums Ned Price einräumen musste: "Es ist wahrscheinlich unsinnig zu erwarten, dass es am 1. September einen normalen Flughafenbetrieb geben wird." Der zweite Weg nach draußen ist keine sichere Alternative, weshalb auch das Auswärtige Amt jenen, die es versuchen wollen, empfiehlt: "Die individuelle Risikoabwägung, sich über den Landweg zur Grenze zu begeben, muss in Abhängigkeit von den persönlichen Umständen von den Betroffenen selbst vorgenommen werden." Für die Schutzsuchenden, von denen sich viele aus Angst versteckt halten oder ständig ihre Bleibe wechseln, muss das eigentlich heißen: Lasst es lieber. Sich bis zu einer der Grenzen durchzuschlagen, vorbei an Checkpoints und marodierenden Taliban-Kämpfern, ist schon gefährlich genug, die Rettung bedeutet es noch lange nicht. Der Außenminister wollte mit seinen Besuchen in drei der sechs Nachbarländer Afghanistans erreichen, dass alle durchgelassen werden, denen eine Aufnahme in Deutschland zugesagt wurde. Und nur die, keine falschen Hoffnungen: "Es geht uns nur um diese Personengruppe." Anders ist es mit den Nachbarn Afghanistans wohl auch nicht zu machen. Die usbekische Regierung betonte am Montag, die Grenze sei "vollständig geschlossen" und man werde selbst keine afghanischen Geflüchteten aufnehmen. In Tadschikistan, dessen gebirgige Grenze ohnehin kaum zu kontrollieren ist, scheint das zumindest denkbar, wenn finanzielle Hilfen fließen und alle Nachbarländer ihren Teil tragen. Pakistan verlangt Pass und Visum bei der Einreise, will keine weiteren Geflüchteten aufnehmen, lässt die Grenze aber erst einmal geöffnet. Alle drei wollen die Ausreise von Afghanen in andere Länder aber theoretisch unterstützen, praktisch ist die Lage an der Grenze bereits an vielen Stellen chaotisch – und die meisten, die dort auflaufen, stehen auf keiner Liste. Die Sorge ist groß, dass sich an den Übergängen die Szenen vom Flughafen in Kabul wiederholen: dass sich dort Tausende stauen, die raus wollen, aber für die es kein Weiterkommen gibt. "Können wir den Taliban trauen? Schauen wir" Aus europäischer Sicht greift derweil die Angst um sich, dass auch hier afghanische Geflüchtete in großer Zahl ankommen werden. Ein Entwurf für das EU-Innenministertreffen an diesem Dienstag gibt sich entschlossen, eine erneute "unkontrollierte und groß angelegte illegale" Einwanderung verhindern zu wollen. "Auf der Grundlage von Lehren der Vergangenheit" – also aus der Fluchtkrise von 2015 – will man demnach handeln und den Nachbarstaaten umfangreiche Hilfen zukommen lassen. Im Prinzip wohl nach dem Vorbild des Deals mit Türkei, wo Maas von Außenminister Mevlüt Çavuşoglu bereits zu hören bekam, das Land könne keine weiteren "Migrationslasten tragen": Nehmt unser Geld und sorgt dafür, dass die Leute nicht weiter nach Europa ziehen, das scheint die einzige Strategie zu sein. Die Bundesregierung beispielsweise hat deshalb 500 Millionen Euro Unterstützung für die Nachbarstaaten angeboten, dazu Hilfe beim Grenzmanagement und der Terrorismusprävention. Das alles macht deutlich, wie erpressbar der Westen sich gemacht hat. So geht es ja nicht nur Deutschland. Auch die anderen Nationen müssen einen neuen Umgang mit den Taliban und auch den Ländern in der Region finden – und haben außer Geld wenig in der Hand, um ihre Interessen durchzusetzen. "Wir wollen gute Beziehungen zu den USA und der ganzen Welt haben", sagte ein Sprecher der neuen afghanischen Herrscher am Flughafen, als die letzten Soldaten weg waren. Und der pakistanische Außenminister Shah Mehmood Quereshi fragte nach seinem Treffen mit Maas: "Können wir den Taliban trauen? Schauen wir." Ein guter Plan kann das kaum sein, aber so ist das eben, wenn man verloren hat. Das haben wir nun davon.