Friday, December 31, 2021

Der amerikanische Luftkrieg ist schmutziger als gedacht

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Der amerikanische Luftkrieg ist schmutziger als gedacht Christian Weisflog, Washington - Vor 1 Std. Es ist kein Geheimnis, dass die USA in ihren Kriegen in Afghanistan und im Nahen Osten zunehmend aus der Luft agierten, um gleichzeitig ihre Präsenz und ihre Verluste am Boden zu minimieren. Dies galt vor allem für den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien und im Irak, bei dem Washington die risikoreichen Gefechte im Gelände weitgehend kurdischen Milizen überliess. Erst jetzt machen indes umfangreiche Recherchen und Enthüllungen der «New York Times» deutlich, welchen Preis die Zivilbevölkerung für die amerikanische Kriegsführung bezahlen musste. Da die Offensive gegen den IS zunächst nur harzig verlief und die Kampfflugzeuge oft von ihren Einsätzen zurückkehrten, ohne ihre Waffen abgefeuert zu haben, änderten die USA 2016 ihre Taktik. Mussten die Luftangriffe zuvor durch hohe Generäle bewilligt werden, konnten dies nun auch untere Hierarchiestufen entscheiden und strengere Richtlinien umgehen, indem sie die Einsätze als «Selbstverteidigung» einstuften. «Anstieg hat mich schockiert» Als besonders problematisch erwies sich dabei ein Einsatzkommando mit dem Namen Talon Anvil. Durch dessen Vorgehen sei die Zahl ziviler Opfer bei Luftangriffen in Syrien zunehmend gestiegen, sagte Larry Lewis, ein ehemaliger Pentagon-Berater, der «New York Times». Der Anteil sei etwa zehn Mal so hoch wie bei ähnlichen Einsätzen in Afghanistan: «Er war viel höher, als ich von einer amerikanischen Einheit erwartet hätte. Die Tatsache, dass er über mehrere Jahre dramatisch und stetig anstieg, hat mich schockiert.» Einzelne Piloten sollen sich geweigert haben, ihre Bomben über Syrien abzuwerfen, weil Talon Anvil fragwürdige Ziele in dicht besiedelten Gebieten angreifen wollte. Am 18. März 2019 attackierten Kampfjets – gefilmt von einer Überwachungsdrohne – eine Gruppe unbewaffneter Zivilisten im ostsyrischen Dorf Baghuz. Dorthin hatten sich die letzten IS-Kämpfer und ihre Familien zurückgezogen. In der amerikanischen Kommandozentrale in Katar sorgten die Bilder für ungläubiges Staunen. «Wer hat dies abgeworfen?», fragte ein Analyst in einem Chat. «Wir haben gerade über fünfzig Frauen und Kindern abgeworfen.» Die Zahl der Toten wurde später auf rund siebzig geschätzt. Ein Rechtsoffizier ging von einem möglichen Kriegsverbrechen aus und forderte eine Untersuchung. Doch die zuständigen Stellen versuchten den Vorfall danach systematisch zu vertuschen. Erst nach einem Bericht der «New York Times» ordnete Verteidigungsminister Lloyd Austin eine neue Untersuchung an.