Wednesday, July 10, 2024

Gipfel in Washington: Die Nato bereitet sich auf Trumps Rückkehr vor

Handelsblatt Gipfel in Washington: Die Nato bereitet sich auf Trumps Rückkehr vor Greive, Martin Meiritz, Annett • 15 Std. • 7 Minuten Lesezeit Der Westen will beim Jubiläumsgipfel in der amerikanischen Hauptstadt Geschlossenheit demonstrieren. Dabei fragen sich alle: Überlebt die Verteidigungsallianz überhaupt die nächste US-Wahl? Ein Regierungsflieger nach dem anderen landete am Dienstag auf der Joint Base Andrews, einem Militärflughafen östlich von Washington. Drei Tage lang treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 32 Nato-Mitglieder in der amerikanischen Hauptstadt, um das 75-jährige Bestehen des Verteidigungsbündnisses zu feiern. Für den Empfang am Abend hatte US-Präsident Joe Biden das Mellon Auditorium gewählt – den Ort, an dem 1949 der Nato-Vertrag unterzeichnet wurde. Am Mittwoch folgt ein Fünfgängemenü im Weißen Haus. Eigentlich sollte das Jubiläum ein Kontrast sein zum 70. Geburtstag vor fünf Jahren. Das Treffen fiel damals in die Trump-Präsidentschaft, und die Stimmung war fast schon depressiv, weil die US-Regierung pausenlos auf Bündnispartner wie Deutschland schimpfte. In dieser Woche wird Biden nun demonstrativ die Geschlossenheit und Stärke der Militärallianz in den Mittelpunkt rücken. Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Nato-Gipfel erneut um dieselbe Person kreist: um Donald Trump. Biden kämpft im Zuge der Debatte um seinen Gesundheitszustand mit massivem Widerstand gegen seine Präsidentschaftskandidatur. Ein Sieg von Trump bei den US-Wahlen am 5. November ist nach der desaströsen TV-Debatte, in der Biden konfus und geschwächt wirkte, deutlich wahrscheinlicher geworden. Falls Trump erneut ins Weiße Haus einzieht, könnte er in seiner zweiten Amtszeit die Nato erheblich schwächen – das sind die Vorzeichen, unter denen der Gipfel in Washington begangen wird. Trump könnte den Gipfel auch durch reine Wahlkampftaktik überschatten, indem er vorzeitig bekannt gibt, wen er als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft ausgewählt hat. Am deutlichsten wird Trumps Einfluss auf die Nato aber bei den zentralen Themen, die die Zukunft des Militärbündnisses bestimmen werden: dem Streit um höhere Verteidigungsausgaben, dem Krieg in der Ukraine und dem Umgang mit der Großmacht China. Besonders Deutschland würde in einer „Trump 2.0“-Realität unter Druck geraten, mehr Geld in die Rüstung zu pumpen, obwohl die Bundesregierung kurz vor dem Gipfel klarstellte: Die jüngst erreichen 2,19 Prozent des Bruttoinlandsprodukts seien bereits ein „beachtlicher Kraftakt“. Bei seiner ersten Kundgebung nach dem TV-Duell gegen Biden rief Trump vor Tausenden Anhängern: „Wir sind nicht mehr für dumm zu verkaufen, und die Nato wird es lernen.“ Mehrere seiner Top-Berater, die in einer neuen Regierung einen Posten bekommen könnten, betonten im Handelsblatt, dass Deutschland mehr leisten müsse. „Zwei Prozent reichen offensichtlich nicht aus“, sagte der republikanische Stratege Elbridge Colby. Trumps früherer Vize-Sicherheitsberater Matthew Pottinger erklärte zum Gipfelauftakt: „Deutschland ist nicht aus dem Schneider.“ Auffällig ist, dass auch immer mehr Demokraten das sogenannte Zweiprozentziel, das 2014 auf dem Nato-Gipfel in Wales vereinbart wurde, für überholt halten: Demnach sollen die Nato-Staaten zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in die Verteidigung investieren. Mittlerweile erfüllen immerhin 23 von 32 Nato-Mitgliedern diese Zielmarke. Die Biden-Regierung verbreitete in den vergangenen Tagen aber ein neues Narrativ: Zwei Prozent seien angesichts der wachsenden geopolitischen Krisen nur ein erster Schritt, heißt es aus dem Weißen Haus. Ähnlich hatte sich bereits der scheidende Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg geäußert, dem ein gutes Arbeitsverhältnis zu Trump nachgesagt wird. Viele Experten halten längst drei Prozent für unumgänglich. Im US-Wahlkampf steht Biden unter Druck, die Sympathien der US-Bürger nicht noch mehr zu verspielen. Während die amerikanische Staatsverschuldung explodiert, sind die USA der bei Weitem größte Beitragszahler für Nato-Operationen und geben rund 860 Milliarden Dollar für Verteidigung aus. Damit decken sie mehr als zwei Drittel der Gesamtausgaben der Nato-Länder ab – und das Zehnfache des deutschen Beitrags. „Wir betrachten die zwei Prozent als Untergrenze, nicht als Obergrenze“, sagte Spencer Boyer, bis vor Kurzem Unterstaatssekretär für Europa im Pentagon, dem Handelsblatt. In Washington werde genau beobachtet, wer zum Gipfel reist und „mit Buchhaltungstricks das Zweiprozentziel erreicht“, erklärte ein hochrangiger US-Regierungsbeamter. Äußerungen wie diese legen nahe, dass der Druck auf Kanada und eine Reihe europäischer Partner unabhängig vom Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen steigen wird, mehr finanzielle Verantwortung zu übernehmen. Gerade Deutschland stellt das vor immense Herausforderungen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reist immerhin mit vorzeigbaren Zahlen zum Nato-Gipfel: In diesem Jahr wird Deutschland 2,1 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben und damit erstmals die Nato-Quote einhalten. Vergangene Woche kündigte Scholz an, den regulären Verteidigungsetat im Jahr 2028 von derzeit 52 auf 80 Milliarden Euro zu erhöhen. Damit will der Kanzler sicherstellen, dass Deutschland das Zweiprozentziel dauerhaft und auch dann noch einhält, wenn 2027 das Bundeswehr-Sondervermögen ausgeschöpft ist. Allerdings ist noch offen, wie Deutschland diesen gewaltigen Anstieg des Verteidigungsetats überhaupt finanzieren will. Forderungen, dass Deutschland noch mehr tun müsse, seien bislang nicht an die Bundesregierung herangetragen worden, hieß zum Auftakt des Nato-Gipfels aus Regierungskreisen – und entsprechende Forderungen, so wurde deutlich, werde man zurückweisen. Allein die jetzigen Anstrengungen seien eine „Mammutaufgabe“. Zudem dürfe man nicht nur auf die Ausgaben schauen. Deutschland unterlege seine deutlich gesteigerten Verteidigungsanstrengungen nicht nur mit Geld, sondern beteilige sich „substanziell“ mit Kommandostrukturen und Truppen an dem Nato-Verteidigungsplan. Sollte Trump jedoch die Wahl gewinnen, dürften solche Erklärversuche kaum fruchten. Schon als Präsidentschaftskandidat gegen Hillary Clinton 2016 sagte Trump: „Ich schaue auf die Zahlen. Wer sie nicht erfüllt, darf die Nato gern verlassen.“ Laut Peter Rough, Europadirektor an der US-Denkfabrik Hudson Institute, werde Trump „die Lastenteilung und die Erhöhung der Bündnisausgaben“ auch in den Fokus des Republikaner-Parteitags in der kommenden Woche rücken. Dort wird Trump offiziell zum Spitzenkandidaten gekürt. Trumps Abneigung gegen die Militärallianz hat eine lange Vorgeschichte. Ebenso wie der Handelskrieg mit China und die Forderung nach einer Flüchtlingsmauer zu Mexiko zieht sich Trumps Anti-Nato-Kurs konstant durch seine politische Laufbahn. Zwar drängten auch Trumps Vorgänger, demokratisch wie republikanisch, auf höhere Verteidigungsetats. Doch mit seiner Schärfe und Häufigkeit der Attacken setzte Trump als Präsident einen Ton, der am multilateralen Engagement der USA zweifeln ließ. Als Trump Angela Merkel düpierte Hinzu kam, dass das Personalchaos in der US-Regierung und Trumps Kommunikationsstil die Beziehungspflege enorm erschwerte. Unvergessen bleibt Angela Merkels erstes Treffen mit dem damals noch neuen US-Präsidenten Trump im März 2017. Kaum hatte Merkel auf dem Rückflug die Reiseflughöhe erreicht, twitterte Trump in Großbuchstaben drauflos, wie viel Geld Deutschland der Nato „unverschämterweise“ noch schulde. Spätestens da, so erzählt ein Regierungsvertreter, der damals an Bord war, sei allen klar gewesen: Bei Trump kann man sich auf gar nichts verlassen. Im Gegensatz zur ersten Amtszeit wissen die Bündnispartner zumindest in Grundzügen, was im Fall einer zweiten Amtszeit auf sie zukommt. Trump strebt in seinem Wahlprogramm eine „radikale Neuausrichtung“ der Nato an. Laut Beratern, die mit seinen Plänen vertraut sind, würden die USA zwar ihren nuklearen Schutzschirm über Europa aufrechterhalten, aber ansonsten die Rolle Amerikas substanziell reduzieren, vergleichbar mit einem Partner, der nur in akuten Krisenzeiten Unterstützung leistet. Die „Washington Post“ berichtete, dass Trumps vorläufiger Plan zur Ukraine vorsieht, die Ukraine zur Abtretung der Krim und der Grenzregion Donbass an Russland zu drängen. Trump selbst hatte Russland bei einem Auftritt im Frühjahr ermutigt, es dürfe Verbündete der USA angreifen, wenn diese nicht genug für ihr Militär ausgäben. General Keith Kellogg, der Trump sicherheitspolitisch berät und in dessen Amtszeit eine Führungsposition im Weißen Haus innehatte, sagte kürzlich: Denkbar sei ein „Stufenmodell“, in dem einige der Mitglieder einen größeren militärischen Beistand genießen, andere weniger. Wer damit nicht einverstanden sei, könne das Bündnis verlassen, so Kellogg. Ob Trump es zum ultimativen Bruch kommen ließe, dem Rückzug der USA aus dem Bündnis, ist unklar – beim TV-Duell gegen Biden zuckte er bei einer entsprechenden Frage mit den Schultern. Zumindest würde der US-Kongress einen Austritt blockieren, gibt Experte Rough zu bedenken. Trump könnte die Nato aber auf andere Weise schwächen. „Die Nato stirbt, wenn die Russen die Ukraine erobern und zum Beispiel Länder wie Estland angreifen“, erklärt Rough. „Dann müssten die Amerikaner wählen: Schicken wir Truppen oder kündigen wir die Sicherheitsarchitektur der Nato auf? Trump könnte sich für Zweiteres entscheiden. Das ist die wahrscheinlichere Art und Weise, wie er die Nato zum Kollaps bringen könnte.“ Länder spielen dramatische Szenen durch Laut Artikel 5 der Nato-Satzung ist das Bündnis verpflichtet, Mitglieder im Falle eines Angriffs zu unterstützen. Aber der Vertrag lässt offen, wie und in welchem Umfang man zur Hilfe eilt. Osteuropäische Staaten und Verteidigungspolitiker spielen bereits dramatische Szenarien durch, die sich mit Gedankenexperimenten in Washington decken. Kremlchef Wladimir Putin könnte demnach einen kleinen, unscheinbaren, aber wohldosierten Angriff auf ein baltisches Land starten, um die Beistandsklausel der Nato zu provozieren. „Wenn ich Putin wäre, würde ich einmal austesten, ob die Beistandsklausel noch gilt“, sagte ein deutscher Verteidigungsexperte, der namentlich nicht genannt werden will. Solche Schreckensszenarien dürften auf dem Nato-Gipfel in Washington nicht offen diskutiert werden – dafür aber umso mehr auf den Fluren und im vertraulichen Gespräch. Das Treffen steht im Zeichen des „Trump proofings“, der Vorbereitung auf alle Eventualitäten. In den vergangenen Monaten schwärmten europäische und auch deutsche Regierungsvertreter in die rechtskonservativen Denkfabriken Washingtons – dort, wo an Trumps inoffiziellem Regierungsprogramm gearbeitet wird. Es wird erwartet, dass die sogenannte Ukraine Defense Contact Group der Nato mehr Befugnisse bekommen wird. Damit soll verhindert werden, dass Trump der Ukraine den Stecker aus der Militärhilfe und -ausbildung ziehen kann. Nato ist schlagkräftiger geworden Einige Stimmen betonen auch, dass Trumps radikale Forderungen am Ende geholfen haben, die Nato schlagkräftiger zu machen: Der Zustand des Bündnisses vor zehn Jahren und heute sei „ein Unterschied wie Tag und Nacht“, räumt Ex-Unterstaatssekretär Boyer ein. Trumps „scharfe Rhetorik“ dominiere, doch am Ende würde auch er erkennen, dass der Westen eine starke Militärallianz gegenüber China und Russland brauche. Einer der größten Unsicherheitsfaktoren auf dem Gipfel wird neben Trump zudem der Gastgeber selbst sein: Präsident Biden gilt nach dem TV-Duell, so klingt es in vielen Gesprächen mit Diplomaten an, als unberechenbares Risiko. Am Donnerstag wird Biden zum Abschluss des Nato-Gipfels seine erste größere Pressekonferenz seit sechs Monaten geben. „Alle werden darauf schauen, ob er sich verspricht und Trump noch mehr Vorteile an die Hand gibt“, sagt ein europäischer Diplomat.