Saturday, July 6, 2024

Niemand sagt uns, was wir zu tun haben: Was die Upperclass mit der Wahlschlappe der Tories zu tun hat

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Niemand sagt uns, was wir zu tun haben: Was die Upperclass mit der Wahlschlappe der Tories zu tun hat Hanspeter Künzler, London • 4 Std. • 4 Minuten Lesezeit Für sie ist alles ein Spiel, in dem sie die Gewinner bleiben. Besucher des Pferderennens Royal Ascot Tim Ireland Die kapitale Wahlniederlage der Konservativen unter Premierminister Rishi Sunak hat wenig mit einer allfälligen Hausse der Labour-Partei zu tun. Deren Stimmenzahl ist im Vergleich zu den letzten Wahlen im Jahr 2019, als Boris Johnson auf einer Begeisterungswelle der Brexit-Befürworter zum Premierminister gewählt wurde, nur unmerklich gestiegen. Dagegen haben sich 19,9 Prozent der Wähler, die damals noch für die Tories stimmten, von ihnen abgewandt. Diese bezahlen nun für die Arroganz der letzten Jahre, wo man sich unantastbar wähnte. Die Generation von Tory-Politikern, die mit David Cameron als Premierminister vor vierzehn Jahren an die Macht kam, trieb es zu bunt. Allen voran Boris Johnson, der seine eigenen Covid-Gesetze mit einer Serie von Partys ignorierte. Das Land hat ihm diese Verlogenheit nie verziehen. Aber auch unter seinen Nachfolgern Liz Truss und Rishi Sunak kamen immer wieder neue Beispiele von Doppelmoral ans Licht. Cameron und Johnson besuchten beide das Internat Eton, Rishi Sunak das kaum weniger prestigereiche Winchester College. Sunak hatte überdies den «Nachteil», auf einem gemäss «Sunday Times» auf 650 Millionen Pfund geschätzten Vermögen zu sitzen. Es ist schwer vorstellbar, dass er alltägliche Probleme wie den für viele Briten lebenswichtigen Preis einer Büchse Böhnchen nachvollziehen konnte. Alle fünf Tory-Premiers in diesen vierzehn Jahren studierten in Oxford, der klassischen Schmiede von Elitepolitikern. Die Stimmung an den teuersten Privatschulen und der Universität Oxford ist untrennbar verbunden mit der Befindlichkeit der Upperclass. So, wie der Vater von Boris Johnson einmal erklärte, erst an der Universität Oxford sei er zum ersten Mal einer Person begegnet, die keine Privatschule absolviert habe, begegnet der durchschnittliche Brite nie einem echten «toff». Und wenn er es doch tut, wird sein Mangel an Klasse gnadenlos wahrgenommen. Wehe dem Unschuldslamm, das von einem «settee» redet statt von einem «sofa»! Oder von «toilet» spricht anstelle von «loo» oder gar «crapper». Frauen, die weisse Schuhe tragen: nein danke! Männer im Button-down-Hemd (also einem Hemd, dessen Kragen an beiden Seiten mit Knöpfen fixiert ist): «forget it.» Im Rolls-Royce durch Oxford brausen: peinlich. Richtig wäre ein verbeulter Land Rover. Denn wer wahren Stil hat, stapelt tief, trägt verlotterte Barbour-Jacken und flucht wie ein Henker. Die britische Upperclass ist eine Welt für sich. Eine Geheimgesellschaft, deren Signale, Symbole und unausgesprochene Gesetze gar nicht so weit entfernt sind von denen der Freimaurer. In jeder Situation erlauben sie ein sofortiges Einschätzen der Position und Haltung des Gegenübers. Gnädig wird über ein soziales Gefälle hinweggesehen, wenn das Gespräch amüsant ist. Aber man wird sich hüten, Dinge anzusprechen, die einem wirklich etwas bedeuten. Boris Johnson verkörpert einen Upperclass-Archetyp: Mit seinem kunstvoll zerzausten Haar, den vielen Affären und den lustigen Sprüchen ist er ganz der Mann, der sich über alle Regeln erhaben weiss. Ob reich oder arm, ob Landsitz, Edelwohnung in Kensington oder besetztes Haus in Hackney, das alles spielt kaum eine Rolle: Was zählt, ist das Wissen, dass man recht hat, auch wenn man nicht recht hat, der Stolz, ein Snob zu sein – und die Überzeugung, dass alles ein Spiel ist, wo die eigene Klasse immer der Gewinner bleibt. Dank der Patronage von König und Kirche wurden im späten Mittelalter mit Winchester, Eton und Westminster die ersten Internatsschulen gegründet. Von Anfang an galten sie als Tummelplatz der Eliten. Im Boom der industriellen Revolution schossen teure, unabhängige Schulen zu Hunderten aus dem Boden. Jugendliche, die jahrelang auf engem Raum zusammenleben, entwickeln ihre eigenen Rituale, Legenden und Regeln. Selbstverständlich schwappten diese ins erwachsene Leben über. Heute gibt es rund 2500 private Internate oder Tagesschulen, ironischerweise «public schools» genannt. Die Kosten für ein Schuljahr in einer Tagesschule bewegen sich um die 17 000 Pfund, ein Jahr in Eton kommt auf das Dreifache zu stehen. Es geht nur ums Spiel Seit den 1980er Jahren versuchen Eton und andere Schulen, das exklusive Image loszuwerden, indem sie Stipendien an Schüler aus bisher ausgeschlossenen Sozialgruppen verteilen. Die Generation von Johnson und Cameron musste sich noch nicht mit dergleichen Ärgernissen beschäftigen. 64 Prozent von Johnsons 33 Kabinettmitgliedern kamen aus Privatschulen, 45 Prozent hatten die Universitäten von Oxford oder Cambridge besucht. Wie Simon Kuper in seiner Chronik der neuesten britischen Politik, «Chums», betont, gehört es zum guten Ton, dass man sich seiner Privilegien als «toff» bewusst ist und sich entsprechend verhält. Sprich: Niemand kann uns sagen, was wir zu tun haben. Oder, wie es eine britische Bekannte des Schreibers formulierte: «Nach Lust und Laune fluchen, furzen und lügen.» «Lügen» mag etwas gar weit gehen. Tatsache ist aber, dass in den privaten Schulen sehr viel Wert auf die Kunst des Debattierens gelegt wird. In der Oxford Union, dem florierenden Debattierklub der Uni Oxford, in dem Johnson und etliche andere konservative Politiker Präsidenten waren, findet diese Kultur ihre Vollendung. Hier gilt es, für Pro und Contra einer Motion zu argumentieren, selbst dann, wenn man gegenteiliger Meinung ist. Rhetorik als Spiel: Johnson liess sich – und damit letztlich die Tories – von diesem Spiel ins Verderben reiten. Eigentlich wäre er ein «remainer» gewesen, witterte im Brexit aber eine Chance, seine politischen Ambitionen wahrzunehmen. Dann argumentierte er in der Sache so geschickt, dass er sich in der Position eines Premierministers wiederfand, der den Slogan «Get Brexit Done» in die Praxis umzusetzen hatte. Etwas schwierig für jemanden, dem der Unterhaltungswert seiner Sprüche wichtiger ist als deren Wahrheitsgehalt. Cameron und Johnson gaben in Grossbritannien den Anstoss zu den Vorgängen, die dazu führten, dass der Karren der Tories tief im Graben landete. Es ist kaum anzunehmen, dass dies im Verhalten ihrer Kreise grosse Spuren hinterlässt. Ein paar politische Skandale oder Niederlagen – Bagatellen! – schaden weder dem Portemonnaie noch dem Immobilien-Portfolio. So kann man weiterhin tun und lassen, was man will. Stilvoll tiefstapelnd natürlich.