Wednesday, July 10, 2024

Marie-Luise Dreyer ist nicht die Landesmutter gewesen, für die sie viele hielten

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Marie-Luise Dreyer ist nicht die Landesmutter gewesen, für die sie viele hielten Jonas Hermann, Berlin • 2 Std. • 3 Minuten Lesezeit Marie-Luise Dreyer stammt aus einer der schönsten Ecken Deutschlands. Sie wuchs in Neustadt an der Weinstrasse auf, im Bundesland Rheinland-Pfalz. Vieles, was auf diese Gegend zutrifft, wird auch ihr nachgesagt. Die Leute im südlichen Rheinland-Pfalz gelten als bodenständig, freundlich und fleissig. Die kleinen Ortschaften liegen in einem Meer aus Weinreben. «Zum Wohl, die Pfalz» lautet das Motto der Region, deren Weine weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt sind. Auch Dreyer kennt man ausserhalb von Rheinland-Pfalz. Als sozialdemokratische Ministerpräsidentin führte sie rund elf Jahre die Geschicke des Bundeslands. Kürzlich gab sie ihren Rücktritt bekannt, weil ihr aus gesundheitlichen Gründen die Energie für das Amt fehle. Am Mittwoch wurde ihr Nachfolger Alexander Schweitzer gewählt. Der «Spiegel» würdigte sie als «grosse Persönlichkeit der deutschen Politik» und wünschte ihr einen angenehmen Ruhestand. Ausserdem erschien dort ein Text, der nur um die Frage kreiste, wie Dreyer ihren Ruhestand verbringen will. Viele deutsche Journalisten mögen Dreyer. Manche regionale Medien schienen sie fast schon zu verehren, jedenfalls bis zum Sommer 2021. Monströse Flutwelle einfach verschlafen? Es war mitten in der Nacht und der Wendepunkt ihrer Amtszeit. Das Ungewöhnliche ist, dass Dreyer in dieser Nacht nach eigenen Worten schlief, obwohl sie hellwach hätte sein müssen. Es ging um die Flutnacht im Ahrtal. Die Katastrophe mit mehr als hundert Toten brachte die Ministerpräsidentin in Erklärungsnöte. Was tat die SPD-Politikerin, als eine monströse Flutwelle durchs Land donnerte? Auf diese Frage gibt es keine gute Antwort, das hat der Untersuchungsausschuss des Landesparlaments gezeigt. Mehrere Vorwürfe stehen im Raum. Einer davon: Dreyer war nicht erreichbar, nicht einmal für ihren Innenminister. Zuletzt wurde ihrer Umweltministerin vorgeworfen, allzu sorglos mit den Folgen der Flut umgegangen zu sein. Diese sah sich später gezwungen, ihre politische Karriere zu beenden. Auch der Innenminister musste wegen seiner Rolle in der besagten Nacht gehen. Dreyer sass alle Vorwürfe aus, doch ihr Nimbus als souveräne Landesmutter war dahin. Ihre Amtszeit teilt sie laut eigener Aussage «in eine Zeit davor und danach». Ihre Sozialdemokraten stehen in den Wahlumfragen nicht mehr gut da, auch darin könnte ein Grund für Dreyers Rückzug liegen. Dabei lag ihr die Rolle der Landesmutter: Sie hatte die Gravitas, den Fleiss und den notwendigen Pragmatismus. So konnte sie auch viele Bürger von sich überzeugen, die nicht zu den Stammwählern der SPD zählen. Rheinland-Pfalz ist stark ländlich geprägt, Politiker werden hier nicht zuletzt daran gemessen, ob sie «Nah bei de Leud» sind. Genau wie ihr Vorgänger Kurt Beck war Dreyer stets bürgernah. Über Nacht halbes Kabinett umgekrempelt Becks Amtszeit war von Affären geprägt. Wegen des Skandals um die Rennstrecke Nürburgring musste sein Finanzminister ins Gefängnis. Auch Dreyer geriet wegen eines Grossprojekts in Bedrängnis. Um ein Haar hätte ihre Landesregierung den defizitären Flughafen Hahn an chinesische Hochstapler verkauft. Bei solchen Entscheidungen war Dreyer nicht mehr die fürsorgliche Landesmutter, sondern agierte eiskalt und frei von Skrupeln. Das bekamen im Jahr 2014 auch einige politische Weggefährten zu spüren, als die Sozialdemokratin über Nacht ihr halbes Kabinett umkrempelte. Mit Alexander Schweitzer macht sie nun einen langjährigen Weggefährten zu ihrem Nachfolger. Schweitzer ist Minister für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung. Mit seinen 2,06 Metern überragt er zumindest optisch die gesamte politische Konkurrenz. Dreyer mit ihrem Nachfolger Alexander Schweitzer, dem neuen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz. Frank Ossenbrink / Imago Bei den nächsten Wahlen im Jahr 2026 muss er für die SPD die Macht sichern. Wie alle süddeutschen Bundesländer ist Rheinland-Pfalz eigentlich traditionell konservativ, trotzdem regiert dort seit mehr als drei Jahrzehnten die SPD. Schweitzer muss diese Vorherrschaft sichern. Der Sinkflug der Bundes-SPD kommt ihm dabei nicht zupass. Daher ist es nach der Ahrtal-Katastrophe ein kluger Schachzug der SPD, ihr Zugpferd zu wechseln. Dreyer begründet ihren Rücktritt anders. Wenn sie sagt, ihr fehle die Energie, klingt das trotzdem absolut glaubhaft, weil sie vor rund dreissig Jahren an multipler Sklerose (MS) erkrankte – einer unheilbaren Nervenkrankheit, die den Betroffenen Kraft raubt und in Schüben voranschreitet. Dreyer liess sich davon nie aufhalten, wofür ihr Respekt gebührt. Aus dieser Perspektive ist ihre Zeit als Landeschefin eine Erfolgsgeschichte, die allen MS-Erkrankten Mut macht. Politisch ist die Bilanz gemischt. Dreyers rheinland-pfälzische Sozialdemokraten sind in den Wahlprognosen von 40 auf 22 Prozent gefallen. Drei Viertel der Menschen im Ahrtal sind laut einer Umfrage unzufrieden mit der politischen Unterstützung beim Wiederaufbau – und warten bis heute darauf, dass die scheidende Landesmutter um Entschuldigung bittet.