Friday, July 5, 2024
Großbritannien nach der Wahl: Schwierige Lage für die Labour-Regierung
Frankfurter Allgemeine Zeitung
66.2K Follower
Großbritannien nach der Wahl: Schwierige Lage für die Labour-Regierung
Philip Plickert • 6 Std. • 3 Minuten Lesezeit
Der „Evening Standard“ in einer Auslage in der Nähe von Downing Street 10
Die britische Wirtschaft und Volkswirte haben auf den Sieg der Labour-Partei zustimmend, aber nicht überschwänglich reagiert. In vielen Reaktionen war die Rede von den geringen Spielräumen im Staatshaushalt, die der neue Premierminister Keir Starmer und die designierte Schatzkanzlerin Rachel Reeves haben werden. Viel Geld für Investitionen ist nicht vorhanden. Starmer hatte „Wandel“ und mehr Wachstum versprochen. Ökonomen fragen nun, wie diese Versprechen konkret verwirklicht werden sollen.
Der Unternehmerverband Confederation of British Industry (CBI) forderte: „Nachhaltiges Wachstum zu schaffen sollte die entscheidende Aufgabe der neuen Regierung sein.“ Der neue Premier habe ein klares Mandat erhalten, schwierige Entscheidungen in Bereichen wie der Planungsreform und dem Ausbau der Stromnetzkapazitäten zu treffen, die notwendig seien, um der Wirtschaft wieder mehr Schwung zu geben, sagte CBI-Geschäftsführerin Rain Newton-Smith. Labour will mit einem neuen Planungssystem die Erteilung von Baugenehmigungen beschleunigen und den Wohnungsbau beflügeln. 1,5 Millionen Wohnungen sollen in den nächsten fünf Jahren gebaut werden. An diesem Ziel war allerdings zuvor auch schon die Tory-Regierung gescheitert. Die CBI-Chefin hofft, dass die neue Regierung zu ihren Versprechen auch liefere.
Deutsche Unternehmen stehen der neuen Regierung freundlich gegenüber, die meisten erwarten aber keine Wundertaten. Das wurde deutlich an einer Stellungnahme der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer in London. Laut deren Geschäftsführer Ulrich Hoppe begrüßen viele Unternehmensvertreter einen Regierungswechsel. „Der Honeymoon der neuen britischen Regierung wird aber relativ kurz sein, denn nur mit viel Disziplin und harter Arbeit kann die britische Wirtschaft wieder auf frühere Wachstumspfade zurückgeführt werden“, sagte er. Disziplin, insbesondere auf der Ausgabenseite, scheine unter der neuen Finanzministerin Reeves sicher zu sein. „Aber in Bezug auf die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen herrscht in den Augen vieler noch einige Unklarheit.“ Das Verhältnis Großbritanniens zur EU sollte wieder enger werden. „Aber wie genau das in vielen Bereichen bewerkstelligt werden soll, ist bisher nur vage formuliert“, so Hoppe.
Kaum Hoffnung auf mehr Wirtschaftswachstum nach Labour-Sieg
Das Thema Brexit hatten beide großen Parteien im Wahlkampf gemieden. Labour hat einen Wiederbeitritt in den EU-Binnenmarkt oder die Zollunion ausgeschlossen. Die frühere Arbeitnehmerfreizügigkeit soll es auch nicht wieder geben. Labour hat zudem versprochen, die Zuwanderung zu senken, die in den vergangenen Jahren Rekordhöhen erreicht hat. Der hohe Migrationsdruck war auch einer der stärksten Kritikpunkte der rechtspopulistischen Partei Reform UK von Nigel Farage, die nach Stimmenanteil drittstärkste Kraft wurde. Das Migrationsthema dürfte politisch weiterhin Sprengkraft besitzen.
Mehrere Ökonomen erklärten am Freitag, dass sie wegen des Labour-Wahlsiegs nicht mehr Wirtschaftswachstum erwarten. „Das Resultat ändert nichts an unserem Ausblick für das britische Wachstum“, sagte Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg-Bank. Im Durchschnitt prognostizieren die von Bloomberg befragten Ökonomen nur 1,2 und 1,4 Prozent plus im nächsten und übernächsten Jahr. Schmieding erwartet etwas mehr. Die Konjunktur dürfte dieses Jahr etwas anziehen. Sanjay Raja, Chefvolkswirt für Großbritannien bei der Deutschen Bank, sagte, Labour könne einen gewissen „Wohlfühlfaktor“ ausnutzen, wenn die Inflation falle und die Haushaltseinkommen stiegen. Aber der wirtschaftliche Rückenwind werde nicht so stark wie 1997, als der Regierungswechsel zu Labour mit Tony Blair und Gordon Brown stattfand.
Starmer hat im Wahlkampf versprochen, eine „wachstums-, wirtschafts- und arbeitnehmerfreundliche“ Strategie zu verfolgen. „Das wird nicht einfach sein“, sagt Schmieding. Verlässlich pragmatische Beziehungen mit der EU und die Reform des Planungssystems brächten leicht positive Beiträge zum Wachstum. Aber auch damit würden die Spielräume im Haushalt nur sehr gering, wenn Reeves nicht übermäßig Schulden machen will. Nach den bisherigen mittelfristigen Budgetplänen, an die sich Reeves weitgehend halten will, sind laut Institute for Fiscal Studies milliardenschwere reale Investitionskürzungen vorgesehen.