Sunday, July 28, 2024

„Goethe und die Juden“ von W. Daniel Wilson – Nicht immer groß

„Goethe und die Juden“ von W. Daniel Wilson – Nicht immer groß 1 Std. • 4 Minuten Lesezeit Goethe War der Dichter ein „heimlicher Judenfeind?“ – Zu diesem Schluss kommt W. Daniel Wilson in seinem spekulativen, aber doch aufschlussreichen Buch über „Goethe und die Juden“. War Goethe Antisemit? Das fragte bereits Anfang dieses Jahrtausends der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Adolf Muschg. Er räumte ein, dass man bei Goethe Äußerungen finde, „die man ohne Umschweife antisemitisch nennen muß“. Eine eindeutige Antwort gab er nicht. In dem neuen Buch des Literaturhistorikers W. Daniel Wilson „Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft“ steht diese Frage wieder im Mittelpunkt. Der Untertitel lässt die Tendenz der Antwort erahnen, denn das Gegenteil von Feindschaft ist Faszination ja nun nicht. Und Wilson führt einige Zeugnisse an, die man nur im Sinne Muschgs beurteilen kann. In einer Zeit, in der in Europa die Emanzipation der Juden voranschritt, war Goethe einer ihrer erklärten Gegner. Schon lange nicht mehr in Frankfurt wohnend, befürwortete er 1796 einen Wiederaufbau des dortigen Ghettos, das niedergebrannt war, und lehnte auch mehr als zehn Jahre später eine Reform des Rechtsstatus der Juden ab. Er schmähte Israel Jakobsohn, Geheimer Finanzrat in Braunschweig und Verfasser einer wichtigen Schrift zur Emanzipation der Frankfurter Juden, als „Braunschweigischen Juden Heiland“ und als „Humanitätssalbader“. Er begrüßte 1816 die „löbliche Anordnung“, nach der in Jena keine handeltreibenden Juden übernachten durften. Er lehnte 1823 „Christen- und Juden-Heiraten“, also Mischehen mit äußerster Vehemenz ab. Fast immer, wenn er das Wort „Jude“ verwendete, meinte er damit die ärmeren „Schacherjuden“. „Man kann Goethe ohne viele Umschweife als Judenfeind bezeichnen“, schreibt Wilson im Fazit seines Buches und fügt wenige Seiten später hinzu: „Unterm Strich war Goethe ein heimlicher Judenfeind, freilich kein extremer, was ihn allerdings nicht entlasten kann.“ Das wirkt ein wenig herumgedruckst, als ob Wilson sich nicht trauen würde, den klaren und verdammenden Satz zu schreiben: Goethe war ein Judenfeind (den Begriff Antisemit lehnt Wilson aus durchaus nachvollziehbaren Gründen ab). Aber erstens scheinen Wilson die Dinge dann doch nicht so klar zu sein, und zweitens formuliert er selbst immer wieder Sätze, die nicht zur Klarheit beitragen. Über den jüdischen Altwarenhändler Moses Levi heißt es etwa: „... etwaige Rechnungen von ihm an Goethe scheinen nicht überliefert zu sein (was Geschäfte nicht ausschließt).“ Das ist logisch richtig, aber für einen Historiker doch eine merkwürdige Aussage, denn natürlich kann etwas passiert sein, das nicht belegt ist, ja, die überwältigende Mehrheit der Dinge, die passiert sind, ist nicht belegt; über diese schreiben Historiker dann regelmäßig nicht. Wilson bringt gerade das in Fahrt, weiter über Levi heißt es: „Ob Goethe Vater Moses oder Sohn Israel persönlich kannte, ist nicht überliefert, aber sehr wahrscheinlich. Es ist sogar möglich, dass er beide förderte und zum beträchtlichen Erfolg des Letzteren beitrug.“ Was wie Satire anmutet, hat bei Wilson Methode: „Wahrscheinlich“, „möglich“, „sicherlich“, „vielleicht“, „vermutlich“, „wohl“, „möglicherweise“, „höchstwahrscheinlich“, „kann“ lauten die Signalwörter, die einen aufgrund ihrer Häufigkeit fast vergessen lassen, was sie sind: Instrumente der Behauptung, der Insinuation und des Verdachts. ie Charakterisierung Goethes als „heimlicher Judenfeind“ etwa ist wesentlich auf Wilsons Behauptung zurückzuführen, dass Goethe eine Öffentlichkeitsstrategie verfolgt habe. Er habe seine Abneigung gegen Juden nie publik gemacht, weil er auf sein Ansehen und das des Weimarer Hofes als liberal bedacht gewesen sei. Wilson kann allerdings kein Dokument, geschweige denn ein Zeugnis von Goethes Hand vorlegen, das diese Behauptung belegt. Außerdem weiß man von Goethe, dass er sowohl privat als eben auch öffentlich durchaus zur Kontroverse fähig war. Das Kreuz der Ehrenlegion, das ihm Napoleon verliehen hatte, trug er regelmäßig, auch nach dessen entscheidender Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig, und verärgerte damit nicht wenige. Dem deutschen Zeitgeist mit seinem wachsenden Nationalismus entsprach er mit seiner Napoleon-Verehrung nicht, aber es schien ihn nicht zu scheren. Als Antisemit hätte sich Goethe im 18. und 19 Jahrhundert zudem nicht in einer extremen Minderheit befunden – aber wann hätte man das je? Kant, Fichte, Achim von Arnim, Clemens Brentano und viele andere bezeugen diesen traurigen Umstand. Zur Verheimlichung hätte Goethe also keinen Grund gehabt. Warum äußerte er sich dann nicht öffentlich judenfeindlich? Vielleicht ist der Grund profan: Es war ihm nicht wichtig genug. Goethe war keine antisemitische Bestie wie Richard Wagner oder der französische Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline. Antisemitische Traktate gibt es von ihm nicht. Aufrufe zur Gewalt, Pogromgelüste und Vernichtungsfantasien sind von ihm nicht bekannt. Vielmehr pflegte er zu vielen Jüdinnen und Juden äußerst gute Beziehungen, setzte sich auch für ihm Unbekannte ein, und selbstverständlich wäre Goethes Werk ohne das Alte Testament nicht denkbar – auch all das stellt Wilson dar. Und dennoch, es ist schwer zu bestreiten, dass Goethe antisemitische Einstellungen pflegte. Dass einem der Satz „Goethe war ein Antisemit“ Mühe bereitet, mag damit zu tun haben, dass sein Antisemitismus im Vergleich in der deutschen Geschichte gering anmutet; und damit, dass es zu der Größe des Weimarer Humanitätsversprechens nicht passen will. Allein, nicht immer wurde Goethe dieser Größe gerecht.