Sunday, July 7, 2024
Die EU ist in einem desolaten Zustand: EU-Erweiterungen werden es schlimmer machen
Berliner Zeitung
Die EU ist in einem desolaten Zustand: EU-Erweiterungen werden es schlimmer machen
Klaus Bachmann • 11 Std. • 11 Minuten Lesezeit
Ursula von der Leyen kann mit allen gut: etwa auch mit der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.
Es war eine ungewöhnliche Beerdigung, nicht einmal im engsten Familienkreis, ohne Priester, ohne Trauergemeinde, ohne Sarg, was daran lag, dass die Tote ihr Ableben kalt lächelnd ignoriert hatte. Aber tot war sie natürlich trotzdem. Die Rede ist von der großen, ambitionierten EU-Reform, die das Europäische Parlament im November letzten Jahres mit knapper Mehrheit auf den Weg gebracht hatte. Damals diskutierte man in Berlin auch noch über den zeitlichen Ablauf: ob der Beitritt der Ukraine und der anderen Beitrittskandidaten vor oder nach der großen Reform erfolgen könne. Jetzt wissen wir es: Die EU-Erweiterung kann, wenn überhaupt, nur vor der großen Vertrags-Reform stattfinden. Es wird, um die Analogie zum Friedhof aufrechtzuerhalten, einen Leichenschmaus vor der Beerdigung geben.
Das alles hat mit dem Ergebnis der französischen Parlamentswahlen und dem erwarteten Wahlsieg des rechtsradikalen Rassemblement Nationale (RN) gar nicht viel zu tun – nicht einmal dann, wenn dieser in der Nationalversammlung eine absolute Mehrheit holt und damit die Regierung bilden könnte. Für diesen Fall hat die französische Verfassung der Fünften Republik mit ihrer Exekutiv-Lastigkeit nämlich vorgesorgt.
Macron kann dann einen RN-Premierminister ernennen – er muss aber nicht. Er kann auch eine Expertenregierung einsetzen und das Parlament nach einem Jahr noch einmal auflösen, falls es seine Regierung blockiert. Man sollte das nicht unterschätzen: Die fast sechshundert Abgeordneten haben in den letzten Wochen Wahlkampfgelder eingeworben, an tausende von Türen geklopft, sich die Beine in den Bauch gestanden in der Hoffnung auf ein Mandat für vier Jahre und dann droht ihnen nach einem Jahr eine Wiederholung des Ganzen.
Besonders für Hinterbänkler und Kandidaten aus aufgesplitterten Wahlkreisen gibt es keine Sicherheit – nichts, was mit einem deutschen „sicheren Listenplatz“ vergleichbar wäre. In der Bundesrepublik werden von Bundestagswahl zu Bundestagswahl 50 bis 60 Prozent der Abgeordneten wiedergewählt, in Frankreich nur 40 bis 45 Prozent.
Anders als bei uns entscheidet in Frankreich der Präsident, nicht der Regierungschef über Außenpolitik und Verteidigung. Er fährt zu Sitzungen des Europäischen Rats, zu G7- und G20-Treffen. Er ernennt und entlässt die Regierung, die ihn aber nicht loswerden kann. Und er kann in begrenztem Ausmaß sogar mit Dekreten regieren, entweder mit einer Art Generalermächtigung des Parlaments oder einer Art Ultimatum: Das Gesetz tritt in Kraft, es sei denn, das Parlament spricht der Regierung das Misstrauen aus. Das alles ist wie geschaffen für das Regieren mit wechselnden Mehrheiten in einem zersplitterten Parlament, auch wenn es natürlich riskant ist. Aber es ist immer die Regierung, die damit ihren Sturz riskiert; der Präsident riskiert höchstens seine Wiederwahl. Macron riskiert nicht einmal das – es ist ja seine letzte Amtszeit.
Der polnische Premierminister Donald Tusk warnt vor dem Aufstieg von Populisten in Europa.
Auch die Zugewinne rechtsradikaler und rechtspopulistischer Parteien bei den Europawahlen stehen einer großen EU-Reform nicht im Weg. Einen einheitlichen Block werden sie kaum zustande bringen. Das Parteienkartell aus Konservativen, gemäßigten Linken und Liberalen, das bisher in Brüssel und Straßburg die Mehrheiten organisierte, kann das auch weiterhin tun, zusammen mit den Grünen hat es sogar einhundert Mandate mehr als für eine absolute Mehrheit erforderlich sind. Nein, der Hund, bzw. die große EU-Reform liegt anderswo begraben: in den Mitgliedsstaaten und bei deren Regierungen oder anders ausgedrückt: im Europäischen Rat, im Rat der EU und in der Geopolitik, soll heißen: in Russland.
Das Europäische Parlament wird auch weiterhin eine anti-russische und pro-ukrainische Mehrheit haben, es wird weiterhin Preise an russische Dissidenten vergeben und Menschenrechtsverletzungen in Russland, Belarus und anderen mit Russland verbündeten Ländern anprangern können. Aber es wird auch eine starke pro-russische Minderheit beherbergen, die größer ist als je zuvor. Vorbei sind die Zeiten, in denen nur einzelne Abgeordnete das Wort für Russland ergriffen.
Inzwischen gibt es Parteien, die über Russland ihre Wahlkämpfe finanzierten (RN), die für Russland Partei ergreifen (Bündnis Sahra Wagenknecht, Fidesz, Schwedendemokraten, AfD und die österreichische FPÖ), deren Vertreter an russischen Propagandaaktionen mitgemacht haben (AfD) oder sogar mit russischen Geheimdiensten verhandelt haben (die italienische Lega). Alle zusammen, so errechnete ein polnisches Investigativ-Portal, kommen auf 160 Abgeordnete.
Das reicht bei weitem nicht, um über die Besetzung der EU-Kommission, die Wiederwahl Ursula von der Leyens als Kommissionspräsidentin oder einzelne Resolutionen mitbestimmen zu können, aber es reicht, um Stimmung zu machen, Themen zu setzen und die öffentliche Debatte zu beeinflussen. Ursula von der Leyen hat in der russischen Staatsduma und in russischen Medien nichts zu sagen. Wladimir Putin hat im Europäischen Parlament und den europäischen Medien eine Menge zu sagen. Er mag sich im EU-Recht nicht auskennen, aber er weiß spätestens seit den ersten Sanktionspaketen: starke EU-Institutionen sind nicht in seinem Interesse. Das genügt.
Der belgische Ex-Premierminister Guy Verhofstadt, der mit vier anderen gestandenen Föderalisten im letzten Jahr federführend den großen EU-Reformentwurf verfasste, wollte das Gegenteil: Die EU-Institutionen sollten mächtiger werden, mehr Kompetenzen bekommen, die nationalen Veto-Rechte weiter zurückgedrängt und das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ auf noch mehr Bereiche ausgedehnt werden. Es sieht vor, dass EU-Gesetze (die mit Rücksicht auf Euroskeptiker offiziell so nicht heißen) nur mit qualifizierter Mehrheit vom Rat (also ohne Vetomöglichkeit) und absoluter Mehrheit im Parlament verabschiedet werden.
Besonders kontrovers: Verhofstadt und seine Verbündeten wollten – wie Olaf Scholz – die Vetomöglichkeit in der EU-Außenpolitik abschaffen, damit Politiker wie Viktor Orban sie nicht nutzen können, um Sanktionen gegen Russland zu verhindern oder zu verzögern. Bisher ist der EU-Hase immer so gelaufen, wie sich Verhofstadt das vermutlich vorstellte: die Materie war so kompliziert, dass sich kaum jemand dafür interessierte.
Und wenn der neue Vertragsentwurf erst einmal fertig war, standen die Zögerlichen, die EU-Skeptiker und die Verteidiger der nationalen Souveränität (bzw. der nationalen Vetos) vor dem teuflischen Dilemma, das so geschnürte Paket entweder in Gänze annehmen oder ablehnen zu müssen. Aber wegen ihrer eigenen Ignoranz und Inkompetenz nahmen sie auf den Inhalt so gut wie keinen Einfluss und erwachten erst, wenn es zu spät war. Um es mit Jean Monnet zu sagen: EU-Reform war meistens „niedrige Politik“, mit der man keine schlafenden Hunde weckt. So hatte Monnet es begründet, dass die EU-Integration mit Wirtschaft und Zöllen begann (die normalerweise auch kaum jemanden auf die Palme bringen) und sich dann langsam vorarbeitete zu Geldfragen, Innenpolitik, Justiz und Außenpolitik.
Aber je technokratischer und geheimnisvoller die EU wird, desto leichter kann man sie mit schierer Demagogie attackieren. EU-Kommissare sind meist extrem kompetent, sprachgewandt, konziliant und belesen, aber mit Volkstribunen, Demagogen, Populisten, mit den Cheerleadern und Vuvuzelas der öffentlichen Auseinandersetzung können sie nicht mithalten. Die picken sich ein saftiges, leicht verständliches Detail heraus und werfen es der Menge zum Fraß vor.
Die interessiert sich nicht dafür, dass man auch nach der Abschaffung des nationalen Vetos in der EU-Außenpolitik keinen Mitgliedsstaat zu Sanktionen, diplomatischen Initiativen und Militäreinsätzen zwingen kann, weil es dafür kein Vertragsverletzungsverfahren und keine Klagemöglichkeit vor dem Europäischen Gerichtshof gibt. Aber dank der Rechtspopulisten und der Russland-Connection hat Anti-EU-Demagogie nun ein viel größeres Publikum als bei der letzten Vertragsreform. Damit ist die EU-Reform längst zu hoher Politik im Sinne Monnets geworden, also zu etwas, was an den Stammtischen, in den sozialen und asozialen Netzwerken und in den Parlamenten der Mitgliedsstaaten diskutiert wird. Und das ist ein besonders wichtiger Punkt.
Die EU kann man nämlich auf verschiedene Art und Weise reformieren. Am einfachsten geht’s, wenn der Rat einstimmig beschließt, in einem bestimmten Politikbereich ab sofort nur noch mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden. Das Aber dabei: Diejenigen, die absehen können, mit qualifizierter Mehrheit überstimmt zu werden, blockieren diese Mini-Reform mit ihrem Veto. Zweite Möglichkeit: Der Europäische Rat beschließt einstimmig, in einem bestimmten Bereich nur noch das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ anzuwenden. Das müssen die Mitgliedsstaaten aber ratifizieren, was bedeutet, dass das Parlament eines jeden Mitgliedsstaats und in manchen Ländern sogar der Präsident, ein Verfassungsgericht oder ein Referendum es verhindern können. Dann muss auf EU-Ebene neu verhandelt werden, bis alle zustimmen. Beim Lissaboner Vertrag, der bisher noch gilt, dauerte allein das Nachverhandeln vier Jahre, nachdem Referenden in Frankreich, den Niederlanden und Irland gescheitert waren.
Damals hatte alles sehr ambitioniert begonnen. Der Europäische Rat kann nämlich eine „Regierungskonferenz“ für eine Vertragsreform einberufen oder – wie Verhofstadt und das Europäische Parlament das wollen – einen Konvent und dann eine solche Konferenz einberufen. Dann verhandelt erst einmal ein bunter Haufen von Politikern und Experten über einen neuen EU-Vertrag und das Ergebnis wird dann von Diplomaten nach den Vorgaben von deren Regierungen korrigiert.
Das ist die längste Variante, beim Lissabonner Vertrag dauerte sie acht Jahre von der Entscheidung des Europäischen Rats über eine Reform bis zum Inkrafttreten eines neuen Vertrags. Und danach waren die EU-Institutionen tatsächlich stärker, hatten mehr Kompetenzen und konnten schneller und mit mehr „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ entscheiden. Für die überwiegend wenig interessierten und wenig kompetenten Reform-Gegner gab es einige symbolische Zugeständnisse, wie zum Beispiel Gesetze, die man anders nannte, damit niemand behaupten konnte, die EU sei ein „Superstaat“ der Gesetze macht.
Die Zentrale der Europäischen Union in Brüssel
gal, welche Reform-Variante sich in Brüssel durchsetzt, sie muss erst einmal durch den Europäischen Rat. Und da kann man heute nicht mehr darauf rechnen, dass die Skeptiker einfach nicken und unterschreiben, weil sie keine Ahnung haben. Wenn ihre eigene Öffentlichkeit nicht dafür sorgt, dass sie dagegen stimmen, dann tut es die Öffentlichkeit, die der Kreml in Europa geschaffen hat: jene 160 EU-Abgeordnete und ihre zahlreichen Kollegen in den nationalen Parlamenten, die Russland-Connection in den Medien und die Bots, Webseiten und Thinktanks, die, wie weiland der Flick-Konzern, „die europäische Landschaft pflegen“.
Aber man muss da gar nicht den Kreml bemühen: Können wir uns vorstellen, dass Georgia Meloni, Viktor Orban und Robert Fico im Europäischen Rat einer EU-Reform zustimmen, mit der mehr Kompetenzen und mehr Macht nach Brüssel verlagert werden und sie selbst und ihre Abgeordneten im Europäischen Parlament leichter überstimmt werden können?
Im Moment sehen viele nach Polen, wo eine europaskeptische und zum Teil geradezu Europa-feindliche Regierung abgewählt und durch die angeblich sehr europafreundliche Regierung Tusk ersetzt wurde. Aber Tusk macht in zentralen Politikbereichen da weiter, wo seine Vorgänger aufgehört haben. Obwohl Polen weiterhin nur winzige Bächlein der globalen Migrationsströme abbekommt, baut er die Mauer zu Belarus weiter, die seine Vorgänger errichteten, wettert gleichzeitig gegen den Migrationspakt, weil er Migranten nicht genug abschreckt und Staaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen, finanziell zur Kasse bittet und er ist gegen die Kernelemente des Verhofstadt-Konzepts wie die Ausweitung der Mehrheitsabstimmungen im Rat und die Anschaffung des Vetos in der EU-Außenpolitik.
Tusk ist da nicht allein: Auch die baltischen Staaten würden ihre Grenzbefestigungen gerne von der EU mitbezahlen lassen, haben aber etwas dagegen, dass ihnen Frontex, die EU-Kommission oder der Europarat dabei über die Schulter und auf das sehen, was sie den Migranten, die über diese Befestigungen klettern, antun. Praktisch alle Mittelosteuropäer und viele Konservative und Christdemokraten in der gesamten EU, die auf die Agrar-Lobby hören, haben ein Problem mit Ursula von der Leyens „Green Deal“, der ihre Landwirtschaft zwingt, sich an Klimawandel und Umweltschutzanforderungen anzupassen.
Und damit sind wir bei einem systemischen Problem, dass den EU-Zusammenhalt wohl noch stärker gefährdet als die Russland-Connection oder die übereifrigen Reform-Ambitionen des Europäischen Parlaments. Man könnte es das „Green Deal Paradox“ nennen, wenn es sich nicht auch auf ganz andere Politikbereiche erstrecken würde. Es funktioniert so: Erst macht die EU-Kommission einen neuen Vorschlag, den sie dann in Brüssel, mit den Mitgliedsstaaten und der Zivilgesellschaft (was meist bedeutet: mit den entsprechenden Lobby-Verbänden) ausführlich konsultiert.
Theoretisch müssten die Mitgliedsstaaten und die Zivilgesellschaft ihre Vorschläge dann so intensiv mit ihren Mitgliedern debattieren, dass eventuelle Einwände noch vor den Abstimmungen in Brüssel berücksichtigt werden können. Weil EU-Vorschläge aber in der Regel technokratisch, juristisch präzise und von PR-Strategen in Konsens-Watte verpackt sind, protestiert in der Regel niemand oder nur so leise, dass es in den Brüsseler Bürotürmen nur als leises Murren ankommt, das man übergehen kann.
Abgeordnete im Europaparlament: Aber was wird da eigentlich gewählt?
Dann wird dort verhandelt, abgestimmt und implementiert, bis der entsprechende Rechtsakt in Kraft tritt und die Bauern in der EU erfahren, dass der Sprit teurer wird oder sie ihre Traktoren modernisieren müssen. Dann gibt’s Sternfahrten in die jeweilige Hauptstadt und nach Brüssel, Prügeleien mit Polizisten und spektakuläre Bauern-Lagerfeuer an französischen Autobahnen, bis die Regierungen und nach ihr die EU-Kommission einknicken und ihre Reform noch einmal nach-reformieren oder sich eine Reflexionspause gönnen, was meist heißt, dass sie aufgeben.
Tun sie es nicht und beharrt die Kommission auf der Einhaltung dessen, was in Brüssel verabredet wurde, gehen in letzter Zeit immer mehr Regierungen dazu über, die gemeinsam beschlossenen Regeln einfach zu verletzen. Dann wird der Green Deal in Frankreich einfach nicht eingehalten, die ungarische, die slowakische und die italienische Regierung gängeln ihre Medien, die polnische Regierung tut nur so, als wolle sie die Gängelung der Justiz durch die PiS rückgängig machen und Ursula von der Leyen macht gute Miene zum bösen Spiel, weil sie für ihre Wiederwahl Stimmen aus diesen Ländern braucht.
Mit anderen Worten: Das „Europa à la carte“, in dem sich jeder nur an die Regeln hält, die für ihn vorteilhaft sind, ist schon längst da. Eigentlich sollte die Kommission das als Hüter der Verträge verhindern, tatsächlich leistet sie ihm jetzt Vorschub. Aus dieser Sicht ist es sogar egal, ob Verhofstadts radikale Verbesserungsvorschläge jemals Praxis werden – die Regierungen werden sich ohnehin nur solange daranhalten, wie sie ihnen gefallen und sie zuhause keine schlafenden Lobby-Hunde wecken.
Selbst für den Fall, dass das Europäische Parlament es schafft, eine abgespeckte Reformversion durch den Europäischen Rat, einen EU-Konvent und die Intergouvernementale Konferenz zu manövrieren, so muss sie am Ende von allen nationalen Parlamenten (und mancherorts auch von Regionalparlamenten, Verfassungsgerichten und Präsidenten mit Veto-Rechten) abgesegnet werden. Wie wahrscheinlich ist das in einem von Meloni regierten Italien, einem von Orban regierten Ungarn, in den von einer euroskeptischen rechtspopulistischen Koalition regierten Niederlande, einer Slowakei unter Fico und einem Frankreich, in dem es entweder eine absolute RN-Mehrheit in der Nationalversammlung oder nur negative Mehrheiten aus Rechts- und Linksradikalen gibt?
Eines ist sicher: Die EU-Erweiterung kann darauf nicht warten. Sie ist von einem technokratischen Prozess, bei dem nationales Recht an EU-Recht angepasst wird, längst zu einer geopolitischen Kraftanstrengung geworden: die Ukraine, Moldawien, Georgien, Montenegro, Serbien, Nordmazedonien und Bosnien und Herzegowina geraten in den nächsten Jahren entweder in den Einflussbereich Russlands und Chinas oder sie werden EU-Mitglieder. Russland und China verlangen keine Rechtsanpassung, keine Bekenntnisse zu Grundrechten und Demokratie, also wird auch die EU in diesem Wettlauf keine allzu weitgehenden Zugeständnisse verlangen können.
Es soll ja schnell gehen, also muss es noch lange vor einer ambitionierten EU-Reform passieren. Und damit haben wir dann schon das nächste systemische Problem: nämlich jede Menge Länder mit Regierungen, die sich mit ihrem nationalen Veto im Rat gegenseitig vor Sanktionen wegen Verstößen gegen die EU-Grundrechte schützen können, so wie Ungarn und Polen das in den letzten acht Jahren taten, so wie Viktor Orban versuchte, mit einem Veto gegen die Ukraine-Hilfspakete jene Gelder zu erpressen, die ihm die EU-Kommission wegen Korruption und mangelnder Rechtsstaatlichkeit vorenthielt.
Gipfeltreffen des Europäischen Rates in Brüssel
Es hat eine gewisse Gesetzmäßigkeit, dass Regierungen, die Probleme mit Demokratie, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit haben, fast immer dafür sind, die EU um Länder zu erweitern, deren Regierungen nicht viel von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Pressefreiheit halten. Es ist wie in einer Straßenbahn, in der Schwarzfahrer ständig andere Schwarzfahrer zum Einsteigen animieren, damit die Kontrolleure überfordert werden. Und in der ohnehin nur die Passagiere Fahrscheine lösen, die gerade Lust dazu haben. Irgendwann bleibt die Straßenbahn stehen, weil kein Geld mehr da ist, um den Fahrer und den Fahrkartenkontrolleur zu bezahlen, dann steigen die reicheren Passagiere in ein Taxi um und die anderen gehen zu Fuß und meckern.
Und nach einigen Jahren wird sich keiner von ihnen daran erinnern, dass der Zusammenbruch des städtischen Nachverkehrs an jenem Tag begann, als der erste Passagier sich weigerte, eine Fahrkarte zu lösen. Er nannte das „Straßenbahn à la carte“.