Wednesday, July 10, 2024

Der Abschied von der großen Wohnung

WELT Der Abschied von der großen Wohnung Irene Maria Scalise • 4 Minuten Lesezeit Die Immobilienpreise in Italien sind stark gestiegen. Das führt nun zu einer interessanten Entwicklung: Wer sich noch eine eigene Immobilie kaufen will, macht zunehmend Abstriche bei der Größe. Die 45-jährige Maria kann sich keine Wohnung kaufen, die größer als 40 Quadratmeter ist. Paolo und Lucia müssen mit einem kleinen Kind auf 55 Quadratmetern leben. Aufgrund der steigenden Immobilienpreise – vor allem aber der Hypotheken – müssen die „Glücklichen“, die sich eine Wohnung kaufen können, bezüglich der Quadratmeter eine Menge Abstriche hinnehmen. „Small is more – weniger ist mehr“, versichert Annalisa Agnese de Curtis, Partnerin des Architektenbüros Morpurgo de Curtis und Dozentin am Polytechnikum Mailand. „Das Haus schrumpft zwar aus finanziellen Gründen, doch sein Raum wird vergrößert, denn er bietet mehr. Hierin liegt jetzt die Aufgabe der Architektur, die sich wieder mit Details befassen kann, indem sie nicht nur Ästhetik und Komfort bietet, sondern auch innovative Dienstleistungen, die von Funktionen aufgrund einer neuen Nutzung ausgehen, damit Räume wie die Küche – und vielleicht sogar das Badezimmer – in Gemeinschaftsräume sowie gemeinsame Räume in Arbeitsplätze verwandelt werden können.“ Es ist unbestreitbar, dass immer mehr Raum geopfert wird. „Wenn in den 60er-Jahren ein ideales Haus oder eine Wohnung noch 130 Quadratmeter umfasste, mit getrennten Zimmern und einigen Schlafzimmern, so sah die Situation 2018 schon vollkommen anders aus“, erklärt Carlo Giordano, Vorstandsmitglied beim „Immobilire.it“. „Die Wohnfläche für die Familie ist sehr viel kleiner, im Schnitt 90 Quadratmeter, mit kombinierten Räumen, wie Wohnzimmer mit offener Küche, die eine neue Vorstellung von Zusammengehörigkeit und Zusammenleben vermitteln.“ „Allerdings hat die Pandemie unsere Vorstellung von Haus oder Wohnung dann erneut beeinflusst und die Raumeinteilung verändert: Vor allem die Bedeutung eines privaten Außenbereichs, wie eine Terrasse oder einen Balkon, aber auch die Möglichkeit, einen gemütlichen Raum als Studio für „Smart Working“ oder eventuelle Freizeitaktivitäten nutzen zu können“. Inspiration aus Japan Victor Ranieri, Chief Operating Officer bei Casavo, fügt hinzu: „Wir haben während der letzten vier Jahre eine verringerte Größe der gekauften und verkauften Apartments festgestellt. Zum Beispiel in Mailand: Dort sind es Minus 13, und in Rom Minus neun Prozent.“ Doch wovon trennen sich die Italiener? „Zu den obligatorischen Trends gehört zweifellos der Verzicht auf eine separate Küche. Diese wird stattdessen zunehmend in den offenen Wohnbereich integriert. Auch die Anzahl der sogenannten blinden Badezimmer nimmt zu. Um Platz sparen zu können, werden Badezimmer mit Fenster jetzt zugunsten anderer, funktionalerer Räume geopfert, wie beispielsweise Schlafzimmer“. Und falls es an Platz fehlt, greift man auf Lösungen im „japanischen Stil“ zurück. „Maßgefertigte Möbel, Schiebetüren, Schränke im Flur, höher angelegte Betten mit Schubladen und einer Leiter am Fußende, an dem dann auch ein Schreibtisch steht.“ Giuseppe Crupi, CEO von Abitare Co., eines auf Neubauten spezialisierten Immobilien- und Dienstleistungsunternehmens, erklärt: „Was Neubauten betrifft, so konzentriert sich die Nachfrage vor allem auf mittelgroße Wohnungen – etwa 60 Prozent der Käufe liegen bei einer Wohnfläche zwischen 50 und 100 Quadratmetern – mit möglichst flexiblen Räumen. Im Vergleich zu der Zeit unmittelbar nach der intensivsten Phase der Pandemie besteht vor allem der Wunsch nach Einfamilienhäusern, scheitert aber unweigerlich an den Kosten, die vor allem in Großstädten meist unerschwinglich sind.“ Crupi fügt hinzu: „Heute legt die Nachfrage mehr Wert auf die Einteilung der Innenräume, dabei ist vor allem der Wohnraum von großer Bedeutung, wo das alltägliche Leben stattfindet und man dieses miteinander teilt, und zwar, wenn möglich, mit Blick auf einen Außenbereich.“ Räume „poetisch“ nutzen Der Luxus, den sich die Menschen bezüglich des Wohnraums nicht leisten können, wird auf irgendeine Weise durch neue Technologien ersetzt: „Sie sind von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, sich das Leben zu erleichtern oder die Lebensqualität, den Komfort, die Konnektivität und die Gesundheit der Umgebung zu verbessern, mithilfe von Hausautomatisierungs-Systemen und intelligenten Haushaltsgeräten, die Geld sparen.“ „Die heutige Architektur“, so de Curtis abschließend, „beruht auf einer Rückbesinnung darauf, wie man die Räume – auch poetisch – nutzen kann. Sie wird zu einem räumlichen Abenteuer, das flexibel ist und gleichzeitig ein Projekt der Nähe, also des Komforts und der guten Erreichbarkeit, und der Distanz, zur Erweiterung des Horizonts.“ Die Vielseitigkeit der Wohnungen hängt auch von der jeweiligen Stadt ab. „Italiens teuerste Stadt ist Mailand“, erklärt Giordano, „wo das monatliche Einkommen, das man für den Ankauf einer Zweizimmerwohnung braucht, genau das Doppelte von dem Durchschnittseinkommen einer alleinstehenden Person beträgt. Dennoch ist die Provinz Mailand sowohl für Singles als auch diejenigen, die eine Wohnung mit ihrem Partner kaufen wollen, ein rentables Ziel. Anders verhält es sich jedoch bei Dreizimmer-Wohnungen: Die erforderliche Summe in der Stadt ist mehr als dreimal so hoch wie das durchschnittliche Netto-Einkommen eines Singles und liegt sogar noch mehr als 70 Prozent über dem gemeinsamen Lohn eines Paares, das damit aber zumindest in der Provinz eine Dreizimmer-Wohnung bekommen kann. Auch in der Hauptstadt kann ein Alleinstehender nur auf eine Zweizimmerwohnung in der näheren Umgebung hoffen: Im Zentrum Roms liegt das erforderliche Einkommen für eine solche Wohnung fast 70 Prozent über dem, was ein Durchschnittsbürger normalerweise verdient. Wie schon im Fall Mailand haben Paare auch hier eine bessere Auswahl: Wer für zwei Personen kauft, kann am Stadtrand eine Wohnung finden. Am schwierigsten ist es in Venedig, eine Wohnung zu kaufen. Dort muss das Durchschnittseinkommen 1400 Euro im Monat betragen, wenn man eine Zweizimmer-Wohnung erwerben möchte, und zwar sowohl in der Stadt selbst als auch in seiner direkten Umgebung.