Wednesday, August 3, 2022
Streit über Flüchtlingsverteilung – „Wir können bald nicht mehr“
WELT
Streit über Flüchtlingsverteilung – „Wir können bald nicht mehr“
Nikolaus Doll - Vor 10 Std.
|
Auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Berlin-Tegel ist wieder richtig Betrieb – allerdings anders, als sich das Verwaltung und Bürger vorgestellt hatten. Eine Zeltstadt ist auf dem einstigen Rollfeld entstanden, bis zu 900 Flüchtlinge können dort nun untergebracht werden.
Zuvor hatte Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) den Notstand ausgerufen – denn die Unterkünfte für Asylsuchende in der Hauptstadt sind voll. Eine neue Taskforce durchforstet seit dieser Woche die Bundeshauptstadt nach Wohnraum für Migranten, nach jedem freien Quadratmeter.
In anderen Regionen des Landes werden zwar keine Notfallpläne scharf gestellt, aber auch dort ist die Situation vielerorts angespannt. Zwar kommen weniger Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland. „Aber bei den Menschen lässt die Bereitschaft nach, Ukrainer privat aufzunehmen. Es ist eben ein Unterschied, ob man jemanden für ein paar Tage oder Wochen in sein Gästezimmer aufnimmt oder für Monate“, sagt die Landrätin des rheinland-pfälzischen Kreises Bad Kreuznach, Bettina Dickes (CDU). „Im Ergebnis bauen wir jetzt ein Containerdorf für bis zu 200 Menschen, um alle unterbringen zu können.“
Ähnlich ist das Bild in anderen Regionen: „Da Frankfurt die Hauptanlaufstelle für Ukrainer in Hessen ist, sind die Aufnahmekapazitäten der Stadt fast ausgelastet“, sagt ein Sprecher der Stadt. In Weimar wird die Aufnahme neuer Kriegsflüchtlinge vorerst aufgeschoben, weil sämtliche Unterkünfte belegt sind – und das sind nur zwei Beispiele von vielen.
„Wir können bald nicht mehr“
Die akute Herausforderung vieler Kommunen ist, dass sie Kriegsflüchtlinge und eine wieder wachsende Zahl von Asylbewerbern zugleich unterbringen müssen. Im vergangenen Sommer waren es im Durchschnitt monatlich 8000 Asyl-Antragsteller, die zu versorgen waren, aktuell kommen rund 13.000 jeden Monat neu hinzu. Und auch wenn der Zuzug aus der Ukraine geringer wird, überfordert das jene Städte und Gemeinden, die die Ukrainer häufig ansteuern.
„Das Problem ist, dass sich die große Zahl der ukrainischen Flüchtlinge auf einige wenige Städte wie Berlin, Hannover oder Dortmund konzentriert. Das sind Drehkreuze, dort sind viele angekommen und von dort, hoffen sie, kommen sie schnell in die Ukraine“, sagt Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes.
Dass die Situation auf dem Land oft nicht entspannter ist, zeigt das Beispiel des Kreises Bad Kreuznach oder des Ilm-Kreises in Thüringen: „Wir können bald nicht mehr – Städte und Landkreise stehen vor dem Kollaps“, schildert die dortige Landrätin Petra Enders (parteilos) die Lage. Denn anders als bei Asylbewerbern können die Behörden den Zuzug von ukrainischen Kriegsflüchtlingen nicht steuern – denn diese Menschen können ihren Aufenthaltsort frei wählen.
Das Ergebnis schildert Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, so: „Die gleichmäßige Verteilung der Geflüchteten auf alle Städte und Gemeinden ist bisher nicht gelungen. Das führt dazu, dass ukrainische Flüchtlinge in Städte kommen, die bereits bei der Unterbringung und Versorgung an Grenzen stoßen, während woanders noch ungenutzte Kapazitäten sind.“
Die Folge ist, dass inzwischen ein Teil der Länder vorerst keine Asylbewerber mehr aufnimmt, weil man die Quote längst erfüllt habe, ein anderer keine Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine mehr. Und das sorgt nun für Unmut zwischen den Bundesländern.
Aufnahmestopp in vielen Kreisen
So richtig angeheizt hatte den Streit über die Verteilung Berlins Sozialsenatorin Kipping vergangene Woche. Sie hatte den Notstand damit begründet, dass die Hauptstadt derzeit überproportional mehr Asylbewerber aufnehmen müsse, weil „fast alle anderen Bundesländer“ aus dem bundesweiten Verteilsystem mit dem Namen EASY ausgestiegen seien. Zusätzlich sei man Ziel Nummer eins für die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. „Berlin muss das nun abfedern“, klagte Kipping.
Nach den Angaben aus Berlin haben sich aktuell zwölf Bundesländer aus dem Aufnahmeverfahren für Asylbewerber ausgeklinkt. Begründung: Man habe keine Unterbringungsmöglichkeiten mehr.
Gleichzeitig nehmen immer mehr Kreise, Kommunen und Bundesländer keine Flüchtlinge aus der Ukraine mehr auf. Begründung auch hier: keine Unterbringungsmöglichkeiten. Allein in Niedersachsen sind es derzeit 17 Städte und Kreise, darunter Hannover, Oldenburg und Göttingen.
Am Dienstag kündigte Sachsen an, der gesamte Freistaat nehme vorerst keine Kriegsflüchtlinge mehr auf. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erklärt dazu, dass die bundesweite Verteilung von Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen zwar nicht ausgesetzt sei, allerdings sei „die landesübergreifende Verteilung in einige Bundesländer aufgrund von Sonderlagen ... mit temporären Sperrungen eingeschränkt“.
Dass die Kritik aus Berlin die Aufnahmebereitschaft in den anderen Bundesländern steigern wird, ist wenig wahrscheinlich – im Gegenteil. Ohne Zweifel ist die Hauptstadt Ziel Nummer eins der Ukrainer.
Allerdings hat eine Befragung des Bundesinnenministeriums auch ergeben, dass rund zwei Drittel der Kriegsflüchtlinge bei Freunden, der Familie oder in anderen Privatwohnungen unterkommen, also nicht vom Staat untergebracht werden muss. Dann ergibt eine Auswertung der EASY-Statistik, dass Berlin genau so viele Asylsuchende aufnimmt, wie es als Land muss, eine Überlastung also nicht vorliegt.
Und dann erleben die Vertreter der anderen Bundesländer regelmäßig, dass sich Berlin vehement für ein „Bleiberecht für alle“ und gegen Abschiebungen einsetzt. Aktuell leben rund 18.000 Ausreisepflichtige in Berlin, die allerdings in aller Regel rasch Duldungen erhalten und ein paar Jahre später Aufenthaltstitel.
Reinhard Sager (CDU), Präsident des Deutschen Landkreistages, hält davon abgesehen nichts, Flüchtlingsgruppen gegeneinander aufzurechnen: „Wenn jetzt einige Bundesländer entweder gar keine ukrainischen Flüchtlinge oder keine Asylbewerber mehr aufnehmen, weil sie bei einer dieser Personengruppen die Zahl der Aufnahmen angeblich übererfüllt haben, dann geraten wir schnell in eine Schieflage“, warnt er. „Wir lösen das Aufnahme- und Unterbringungsproblem nicht, indem die Länder die eine Gruppe von Schutzsuchenden gegen die andere aufrechnen.“