Wednesday, August 31, 2022

Gorbatschow: Friedensfürst und Sündenbock

ZEIT ONLINE Gorbatschow: Friedensfürst und Sündenbock Michael Thumann - Vor 1 Std. In Deutschland verehrt, in Russland verachtet: Michail Gorbatschow war eine Ausnahmeerscheinung der Geschichte Der frühere sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow ist im Alter von 91 Jahren gestorben. Er ging als der Sündenbock schlechthin. Michail Gorbatschow – das war für die meisten Russen der Generalsekretär und Präsident, der das Land verspielt, die Kommunistische Partei verraten und seine Amtszeit versemmelt hat. Alles wird ihm zur Last gelegt: die spätsowjetische Versorgungskrise, der Zerfall des Imperiums, die Niederlage im Kalten Krieg gegen die USA. Russlands Herrscher Wladimir Putin hat da noch einen draufgesetzt und den Untergang der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet. Die Mehrheit der Russen nickt dazu und wird Gorbatschow, der am Dienstagabend dieser Woche starb, schnell vergessen wollen. Gorbatschows Ansehen in seinem Krieg führenden Land steht in krassem Kontrast zu den Huldigungen, mit denen das letzte Staatsoberhaupt der Sowjetunion in Deutschland zugeschüttet wurde. "Gorbi" steht für die Wiedervereinigung. Gorbi steht für Reformen und umfassende Abrüstung. Gorbi steht für das systemübergreifende Friedensversprechen in einem geeinten Europa. Alles Visionen, die sechs Monate nach Russlands Überfall auf die Ukraine ferner denn je scheinen. An Michail Gorbatschow scheiden sich die Geister. Doch was war er nun, Friedensfürst oder präzedenzloser Versager? Haben die Deutschen oder die Russen recht? Dieser Mann, so viel vorweg, ist eine Ausnahmeerscheinung der Geschichte, er hat die Welt auf drei Weisen nachhaltig geprägt, als Revolutionär wider Willen, als Mann des Friedens und als Held des Rückzugs. Als Michail Gorbatschow am 11. März 1986 antrat, war die Sowjetunion bereits am Ende. Das wollen heute viele in Russland nicht wahrhaben. Die Sowjetunion war außenpolitisch überdehnt und innenpolitisch dysfunktional. Veraltete Industrien, eine dramatisch zerfallende Infrastruktur und die wachsende Versorgungskrise nahmen den Sowjetführern schon vor Gorbatschow alle Möglichkeiten, den USA Paroli zu bieten. Über das marode Land hatte sich die Kommunistische Partei wie ein Betonsarkophag gelegt, unter dem sich nichts mehr bewegte. Die KP sorgte auch dafür, dass alle Statistiken sorgsam gefälscht wurden, damit niemand sah, wie schlimm die Lage wirklich war. Der vor Gorbatschow kolossal gestiegene Alkoholkonsum sorgte nicht dafür, die Probleme klarer zu sehen. Im Gegensatz zu vielen Funktionären hatte Gorbatschow die Defizite scharf erkannt und versuchte, den Beton zu sprengen. Seine Mittel waren zunächst der Umbau der Kommunistischen Partei und der Wirtschaft, später die Einführung der Meinungsfreiheit. Perestroika und Glasnost waren die beiden Parolen des Visionärs, mit denen er weltberühmt wurde. Gerade die Meinungsfreiheit veränderte das Land tiefgreifend. Die Menschen fingen an, über ihre Sorgen zu sprechen, die nie beleuchteten Verbrechen der Vergangenheit wurden ans Licht gezerrt, die Nöte der Gegenwart beklagt. Neue Zeitungen entstanden, die Menschen trauten sich, laut zu sprechen. Das war eine Befreiung. Doch wirtschaftlich kam nichts voran. Michail Gorbatschow hatte die Reformierbarkeit des Sozialismus überschätzt. Ihn erreichten täglich Telegramme aus dem ganzen Land über leere Lebensmittelregale, aufflammende Nationalitäten-Konflikte, kilometerlange Warteschlangen für Brot, Seife und Waschmittel. Die Meinungsfreiheit führte dazu, dass die Menschen begannen, erst über das System, dann aber über Gorbatschow zu schimpfen. Auch das suchoj sakon, die radikale Verknappung der Alkoholproduktion, verbesserte sein Ansehen nicht. Michail Gorbatschows Öffnung hatte eine tiefe Umwälzung erzeugt, tiefer, als er eigentlich beabsichtigte. Er wurde zum Revolutionär wider Willen, ohne innenpolitisch durchschlagende Erfolge. Anders als beim großen sozialistischen Rivalen China unter Deng Xiaoping scheiterte in der Sowjetunion der Umbau der Wirtschaft. Der wachsenden Verachtung im eigenen Land stand die Verehrung im Ausland gegenüber. Gorbatschow und seine Frau Raissa glänzten, aber bei den anderen. Im Dezember 1987 reisten die beiden nach Washington. Sie waren die Hauptpersonen auf einem prachtvoll inszenierten Staatsempfang. Raissa im zweiteiligen Kleid aus schwarzem Brokat mit Perlenhalsband verzauberte die Welt, was ihr die Hardliner zu Hause nicht verziehen. Michail Gorbatschow unterzeichnete den INF-Vertrag über die vollständige Vernichtung der atomaren Mittelstreckenwaffen, den Putin und Donald Trump später zerstörten sollten. Dieser Vertrag leitete das Ende des nuklearen Wettrüstens in Europa ein. Gorbatschow fand im damaligen US-Präsidenten einen perfekten Partner. Ronald Reagan wusste nicht nur, wie man aufrüstet, sondern auch, wie man abrüstet. Drei Jahre später segnete Gorbatschow auch den Vertrag über die Begrenzung konventioneller Rüstung in Europa und das Chemiewaffenabkommen mit den USA ab. Er polte die sowjetische Armee um von einer Allzeit-zum-Erstschlag-bereit-Haltung zu einer Verteidigungsmentalität, die Krieg vermeidet oder verhindert. Mit dieser Einstellung ging Gor­ba­tschow auch an die deutsche Wiedervereinigung heran. Beim Fall der Mauer 1989 war seine Frage: Konnte die DDR ohne sowjetische Unterstützung überleben? Die Fraktion der knochenharten "Germanisty" in den sowjetischen Apparaten sah es geopolitisch: "Sie muss überleben, koste es, was es wolle!" Gorbatschow sah es anders. Er warnte die Parteigenossen in der DDR, nicht hinter den Entwicklungen zurückzubleiben. Daraus wurde später in Deutschland das geflügelte Wort: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Mit Kanzler Helmut Kohl einigte sich Gorbatschow auf den Prozess der Wiedervereinigung. Der US-Präsident und das sowjetische Oberhaupt förderten die Vereinigung, während Briten und Franzosen mauerten – erfolglos. Und es lag vor allem an Gorbatschows Weitsicht, dass die Wiedervereinigung den Frieden in Europa festigen würde. Er stimmte auch der Zugehörigkeit des vereinigten Deutschlands zur Nato zu. Und das – anders als eine Legende behauptet – ohne die Zusicherung, dass die Nato sich nicht weiter nach Osten erweitern würde. Gorbatschow selbst hat diese Behauptung mehrfach widerlegt. Doch während ihm die Welt applaudierte, entglitt Gorbatschow sein eigenes Land. Die innenpolitischen Probleme verstärkten sich gegenseitig. Gorbatschow wollte in übersichtlichen Schritten reformieren, doch unter seiner Herrschaft revolutionierte sich das Land. Mächtige Gegner erwuchsen ihm: die gewählten Präsidenten der erstarkten Sowjetrepubliken; der im Gegensatz zu Gorbatschow gewählte Präsident der Russischen Föderativen Sowjetrepublik, Boris Jelzin; und die Front der Erzkonservativen und Kommunisten, denen die ganze Richtung nicht passte. Überall im Lande riefen neue Anführer der ethnischen Republiken nach Selbstbestimmung. Gorbatschow wusste nicht mit dem aufkeimenden Nationalismus umzugehen. Im Januar 1991 eskalierten Sicherheitskräfte im litauischen Vilnius die Gewalt. Moskautreue Uniformierte wollten gegen die bevorstehende Unabhängigkeit putschen, Armeepanzer überrollten wehrlose Demonstranten, vierzehn von ihnen starben, mehr als tausend wurden verletzt. Gorbatschow tat zu wenig, um den Blutsonntag von Vilnius zu verhindern. Am Ende putschten die Reaktionäre auch gegen ihn. Eine Junta ergriff die Macht im August 1991, Gorbatschow wurde drei Tage auf der Krim festgesetzt, er wurde zum Gefangenen im eigenen Land. Den Kampf gegen die Putschisten übernahm derweil sein Rivale Boris Jelzin, der sich auf dem Panzer stehend zum Volkshelden aufschwang. Jelzin bezwang die Putschisten und ließ Gorbatschow zurückkehren – als gebrochenen Mann. Während Gorbatschow die Kommunistische Partei von Reaktionären säubern wollte, ließ Jelzin die KP kurzerhand verbieten. Jelzin unterzeichnete das Dekret während einer Gorbatschow-Rede im Obersten Sowjet und erniedrigte den fallenden Anführer. Die nichtrussischen Republiken erklärten sich für unabhängig. Formell noch im Amt, verlor Gorbatschow alle Macht, bis das Land, dessen Präsident er war, am 25. Dezember 1991 verschwand. Aus dem Revolutionär wider Willen war der tragische Held des Rückzugs geworden, wie Hans Magnus Enzensberger die spätsozialistischen Reformer nannte. Vielleicht war Gor­ba­tschows größtes Problem seine politische Halbschlächtigkeit. Er wollte das Land verändern, aber nicht von Grund auf, nur ein bisschen. Er wollte mit Stalinismus und Breschnewismus brechen, aber den Leninismus erhalten und reformieren. Er ließ sich zum Präsidenten wählen, aber von den Räten und nicht vom Volk. Er wollte Staatssozialismus und staatsferne Meinungsfreiheit zugleich. Gorbatschow war weder stählern konservativ noch entschlossen revolutionär – und blieb irgendwo auf halber Strecke stecken. So geriet er am Ende in ein unauflösbares Dilemma. Er wollte die Sowjetunion erhalten, genauso wie seine ärgsten Feinde, die Putschisten. Er wollte Menschenrechte und Meinungsfreiheit ausweiten, das wollten seine Ex-Freunde, die Reformer, auch. Doch sie wollten die Sowjetunion nicht mehr und wurden so zu seinen Gegnern. In seinen schlimmsten Stunden während des Putsches 1991 hielt niemand mehr zu Gorbatschow. Die einen hielten ihn gefangen, die anderen liefen zu seinen reformorientierten Rivalen über. Michail Gorbatschow hat diese Einsamkeit in Russland nie mehr überwinden können. Er litt darunter. Er fuhr nach Deutschland, wo er gefragt, bewundert, gefeiert wurde. In Russland versuchte er vergeblich, in Tuchfühlung mit dem Volk zu kommen, machte sich klein, um seinem Nachnachfolger Putin durch selbstentwürdigendes Lob zu gefallen. Auch das ohne Erfolg. Dabei hatte er das alles nicht nötig. Denn er wird in Russland völlig zu Unrecht verachtet. Als die Sowjetunion zerfiel, war alles möglich, bis zum großen Atomkrieg. Dazu kam es nicht, weil Gorbatschow alles tat, um ihn zu verhindern. In krassem Gegensatz dazu droht sein Nachfolger Putin heute unaufhörlich damit, seinen Feldzug gegen die Ukraine zu einem Nuklearkrieg auszudehnen. Mit seinen Friedensinitiativen nach außen konnte Gorbatschow den inneren Niedergang der Sowjetunion nicht aufhalten. Aber das hochgerüstete Imperium trat unter ihm friedlich von der globalen Bühne ab. "Armageddon abgewendet", schrieb der Osteuropahistoriker Stephen Kotkin zu Recht. Das war nicht nur, aber vor allem sein Verdienst. Michail Gorbatschow hat damit Weltgeschichte gemacht.