Thursday, July 4, 2024

Ukraine und China: Warum schweigt man über den Beistandsvertrag zwischen den beiden Ländern?

Berliner Zeitung Ukraine und China: Warum schweigt man über den Beistandsvertrag zwischen den beiden Ländern? Frank Sieren • 2 Std. • 4 Minuten Lesezeit Er ist kein Geheimnis und wird doch geflissentlich übergangen: der „PRC-Ukraine-Vertrag über Freundschaft und Kooperation“ (PRC: People’s Republic of China). Mit ihm hat sich vor mehr als zehn Jahren die Volksrepublik China verpflichtet, der Ukraine im Fall eines Angriffs auf ihre Souveränität beizustehen. Unterschrieben wurde das Dokument am 5. Dezember 2013 von Xi Jinping und dem damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Dennoch redet heute niemand darüber. Peking nicht. Kiew nicht. Auch die Rivalen in Washington legen den Finger nicht in die Wunde. Und wenn Washington schweigt, schweigt auch Brüssel. Janukowitsch floh wenige Wochen später, im Februar 2014, wegen der Unruhen in Kiew über die Krim nach Russland. Unmittelbar danach wurde er vom ukrainischen Parlament abgesetzt, obwohl eine solche Möglichkeit in der ukrainischen Verfassung gar nicht vorgesehen war. Der Vertrag mit China gilt weiter, und zwar bis 2038. Er wurde für 25 Jahre unterschrieben und zwingt Peking, der Ukraine ohne Wenn und Aber beizustehen. „Die chinesische Seite unterstützt die Bemühungen der ukrainischen Politik zum Schutz der Einheit und territorialen Integrität der Ukraine und der damit verbundenen Fragen“, heißt es in dem Text. Peking ging es damals offensichtlich mehr darum, Janukowitsch vor dem Westen zu schützen als vor Putin. Wenige Tage vor der Unterzeichnung des chinesisch-ukrainischen Vertrages, am 21. November 2013, hatte die Regierung in Kiew den Abschluss des Assoziierungsabkommens mit der EU gestoppt. Das geschah im Interesse von Wladimir Putin, der mit Sanktionen Druck auf die Ukraine ausgeübt hatte. Andererseits besaß Peking auch kein Interesse daran, dass die Ukraine unter einen zu engen Einfluss Russlands geriet. Kiew lieferte Rüstungsgüter, die China von Putin nicht bekam, zum Beispiel einen alten Flugzeugträger und die größten militärischen Luftkissenboote der Welt. Der Flugzeugträger ist seit 2012 für die chinesische Marine unter dem Namen Liaoning unterwegs, die ersten LCAC-Luftkissenboote der Zubr-Klasse mit einem Gewicht von über 550 Tonnen seit Mai 2013. Janukowitsch und Xi unterzeichnen 2013 ein Abkommen über bilaterale Zusammenarbeit. Kiew sollte zudem mehr Getreide liefern, um die Abhängigkeit Chinas von den USA zu verringern. 2013 deckten die USA über 90 Prozent der chinesischen Getreideimporte ab – ein Wert von 1,25 Milliarden US-Dollar. 2021, also im Jahr vor dem russischen Angriff, lieferte die Ukraine rund ein Drittel ihres Maises nach China, etwas mehr als in die EU und im Gesamtwert von knapp zwei Milliarden Dollar. Gleichzeitig diente der Vertrag zwischen Kiew und Peking dazu, die Taiwanfrage im Sinne Pekings zu zementieren: „Die Ukraine unterstützt die Politik der Volksrepublik China in Fragen der Vereinigung und territorialen Integrität.“ Die Ukraine erkannte an, „dass es nur ein China in der Welt gibt und dass die Volksrepublik China die einzige rechtmäßige Regierung ist, die China vertritt; Taiwan ist ein untrennbarer Teil Chinas“. Dafür erklärte sich China bereit, die Souveränität der Ukrainer zu schützen. Eine Sicherheitsgarantie von Präsident Xi persönlich, unterschrieben ein Jahr vor der Annexion der Krim durch Wladimir Putin. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj müsste Xi eigentlich täglich an seine Verpflichtung erinnern. Doch Selenskyj sieht Peking eher als Vermittler mit großem Einfluss auf Putin denn als Schutzmacht. Selenskyj will sich zudem enger an Europa und die Nato binden. Für ihn sind die jüngst aufgenommenen Beitrittsgespräche mit der EU ein wichtiger Schritt. Die Sicherheitsgarantie von China passt dabei nicht ins Konzept. Kündigen will Kiew den Vertrag mit China allerdings auch nicht. Das wiederum würde Peking brüskieren, und Selenskyj braucht Xi als Vermittler. China ist das einzige große Land, das sowohl von Kiew als auch von Moskau als Vermittler anerkannt wird. Voraussichtlich wird Peking, die Brics-Staaten im Rücken, eine zentrale Rolle bei Friedensverhandlungen spielen. Immerhin könnten die Amerikaner Peking mit dem Vertrag unter Druck setzen. Allerdings passt das Dokument auch ihnen nicht ins machttaktische Konzept. Das Narrativ der zwei mächtigen, autoritären Staaten, Russland und China, die sich gegen den freien Westen verschwören, ist die stärkere, überzeugendere Geschichte. Da stört der Hinweis auf den Vertrag eher. Es ist auch so schwierig genug, das Narrativ zu halten, da nicht nur China Russland unterstützt, sondern auch Demokratien wie Indien und Brasilien und die Brics+-Mitglieder insgesamt. Im Westen funktioniert das Narrativ noch. Im Globalen Süden schon nicht mehr. Brüssel orientiert sich ebenfalls an diesem Narrativ. Berlin auch. Ob Berlin überhaupt von dem Vertrag weiß, der noch immer in der offiziellen ukrainischen Liste der Verträge mit China steht? Selbst Peking nutzt den Vertrag – erstaunlicherweise – nicht. Es könnte ja deutlich machen, dass China nicht nur einseitig Putin unterstützt. Der Grund: Peking hat sich entschlossen, Russland eng an sich zu binden und Putin abhängig zu machen, um ihn zwingen zu können, zu tun, was Peking will. Da passt die Verpflichtung auch nicht. Deswegen ist dieser Vertrag, der eigentlich die Ukraine schützen sollte, ein Vertrag, den keine der Kriegsparteien gebrauchen kann. Eine ungewöhnliche Konstellation im globalen Machtkampf, die eine allzu gern vergessene Erkenntnis deutlich macht. Auch wenn es (scheinbar) um Gut und Böse geht: Jede Partei betont nur, was ihr nutzt.