Tuesday, March 15, 2022

15 Jahre für fünf Sekunden? Die Heldin vom russischen Staatsfernsehen

Berliner Zeitung 15 Jahre für fünf Sekunden? Die Heldin vom russischen Staatsfernsehen Ulrich Seidler - Vor 1 Std. Es sind ein paar Sekunden, in denen sich das Leben von Marina Owsjannikowa, einer russischen Mutter mit Familie, auskömmlicher Arbeit und Hobbys, verändert hat. Die Mitarbeiterin des russischen Staatssenders Erster Kanal betritt am Montagabend während der Hauptnachrichtensendung um 21 Uhr das Studio, rennt zehn Schritte in den Raum, sucht den Bildausschnitt der TV-Kameras und hält ein Protestplakat hoch: „Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen.“ Die Live-Regie reagiert nach fünf Sekunden – nicht schnell genug. Owsjannikowa konnte mehrmals „Kein Krieg!“ rufen, die Bilder waren im Kasten, bevor umgeschaltet wurde, und finden nun Verbreitung über die sozialen Medien, wo Owsjannikowa als Heldin gefeiert wird. Nicht zu sehen ist, was dann geschah. Kollegen werden Marina Owsjannikowa aus dem Studio geführt und die Polizei gerufen haben. Ihr drohen, wenn es nach den Gesetzen des Unrechtsstaates geht, „wegen Verzerrung des Zwecks, der Rolle und der Aufgaben der russischen Streitkräfte während militärischer und anderer Sonderoperationen“ bis zu 15 Jahre Haft. Aber wann halten sich die Geheimdienstschergen von Putin schon an Gesetze? Bevor Marina Owsjannikowa ihren Auftritt absolvierte, postete sie mit einer Halskette in russischen und ukrainischen Farben auf Twitter ein Selfievideo. In aller Klarheit benennt sie, was offiziell nur „militärische Sonderoperation“ heißen darf, als „Brudermord-Krieg“ und als ein Verbrechen, für das Putin verantwortlich ist und von dessen Schande „sich zehn Generationen unserer Nachfahren nicht reinwaschen können“. Owsjannikowa wurde 1978 in Odessa geboren. Laut ihrem Facebook-Profil hat sie zwei Kinder, mag den Schwimmsport und Hunde, vor allem Golden Retriever. In ihrem Twitter-Video erwähnt sie ihre Eltern, die Mutter ist Russin, der Vater Ukrainer, zwischen denen es nie Feindschaft gab. Und sie spricht über ihre Scham darüber, dass sie Kreml-Propaganda zu verbreiten half: „Ich schäme mich dafür, dass ich zuließ, dass Russen in Zombies verwandelt wurden.“ Dass die Verwandlung nicht endgültig ist, dafür gibt sie selbst das beste Beispiel und darauf hofft sie auch bei ihren Landsleuten: „Wir, die russischen Menschen, können denken und sind klug. Es liegt nur an uns, diesen ganzen Wahnsinn zu beenden. Geht demonstrieren. Fürchtet nichts. Sie können uns nicht alle einsperren.“