Thursday, March 31, 2022

Russische Soldaten verweigern offenbar Befehle und sabotieren ihre eigene Ausrüstung

WELT Russische Soldaten verweigern offenbar Befehle und sabotieren ihre eigene Ausrüstung Frank Stocker - Gestern um 08:22 Die Moral der russischen Armee ist nach Geheimdienstberichten am Boden. Zugleich werden Russlands Angriffe immer brutaler. Der ukrainische Präsident glaubt daher nicht an den Friedenswillen Moskaus und rechnet in den kommenden Tagen mit schweren Kämpfen um den Donbass. Ein Überblick. Die russische Armee hat sich im Ukraine-Krieg massiv verkalkuliert, musste teilweise heftige Niederlagen einstecken und beklagt mittlerweile Tausende von toten Soldaten. Ein wesentlicher Grund dafür liegt offenbar darin, dass die Soldaten sich mit den Zielen ihrer Führung nicht identifizieren können. Dem Chef des britischen Geheim- und Sicherheitsdienstes Government Communications Headquarters (GCHQ), Jeremy Fleming, zufolge haben russische Soldaten in der Ukraine Befehle verweigert, ihre eigene Ausrüstung sabotiert Zudem hätten sie versehentlich sogar eines ihrer eigenen Flugzeuge abgeschossen. Es gebe Beweise dafür, dass die Moral der russischen Soldaten niedrig und ihre Ausrüstung schlecht sei, so Fleming. Ein ukrainischer Soldat sitzt auf einem erbeuteten russischen Panzer, der mit einem „Z“ markiert ist. Er warnte gleichzeitig davor, dass Russland versuchen könne, aufgrund der schlechten Moral der eigenen Soldaten verstärkt auf Söldner der berüchtigten Wagner Gruppe zurückzugreifen. Diese Gruppe sei bereit, zahlreiche erfahrene und neu rekrutierte Söldner in die Ukraine zu entsenden. Diese könnten als Kanonenfutter enden, um so die Zahl der Toten unter den Soldaten niedriger zu halten, sagte Fleming. „Putin hat die Situation massiv falsch eingeschätzt“, erklärte Fleming zudem in einer Rede im australischen Canberra an der Australian National University weiter. Dies geht aus einer Mitschrift seiner Ausführungen hervor. „Wir glauben, dass Putins Berater Angst haben, ihm die Wahrheit zu sagen“. Diese Aussagen waren zuletzt auch von anderer Seite bestätigt worden. Die Kommunikationsdirektorin des Weißen Hauses, Kate Bedingfield, sagte am Mittwoch in Washington unter Berufung auf Geheimdienstinformationen: „Wir glauben, dass er von seinen Beratern nicht richtig darüber informiert wird, wie schlecht das russische Militär agiert und wie die russische Wirtschaft durch die Sanktionen gelähmt wird.“ Putins hochrangige Berater hätten „zu viel Angst, ihm die Wahrheit zu sagen“. Erneut schwere Raketenangriffe Die mangelnde Moral der Truppe versucht Russland offenbar auch durch immer brutalere Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur und die Zivilbevölkerung auszugleichen. So ist nach ukrainischen Angaben bei einem Raketenangriff ein mit Treibstoff gefülltes Öldepot in der Großstadt Dnipro zerstört worden. Trümmer einer Rakete hätten zudem zwei Tanklastwagen beschädigt, teilte der Leiter des Regionalrats, Mykola Lukaschuk, am Mittwoch per Telegram mit. Es habe keine Toten oder Verletzten gegeben. Lukaschuk machte Russland für den Angriff verantwortlich. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden. Dnipro liegt im Südosten der Ukraine und ist bislang von Angriffen weitgehend verschont geblieben. Vor kurzem feuerten russische Kräfte nach ukrainischen Angaben zweimal Raketen auf eine Militäreinheit nahe der Stadt und beschädigten demnach Kasernen erheblich. In Nowomoskowsk nordöstlich von Dnipro schlug am Mittwoch ukrainischen Angaben zufolge ebenfalls eine Rakete in eine Fabrik ein. Es habe keine Toten gegeben, teilte Walentyn Resnitschenko von der Gebietsverwaltung Dnipropetrowsk mit. Die ukrainischen Behörden werfen der russischen Armee außerdem vor, erneut Phosphorwaffen in der Ostukraine eingesetzt zu haben. In der Kleinstadt Marinka hätten die von russischen Soldaten eingesetzten Waffen „ein Dutzend Brände“ verursacht, erklärte der Chef der Militärverwaltung der Region Donezk, Pawel Kyrylenko, am Mittwoch. Laut Kyrylenko wurden am Mittwoch auch die Orte Heorhijiwka, Nowokalinowo und Otscheretyne bombardiert. Angaben zur Art der dabei verwendeten Waffen machte er nicht. Zivile Opfer habe es durch die Angriffe nicht gegeben, allerdings seien mehrere Häuser beschädigt worden. Der Pressedienst der Staatsanwaltschaft von Charkiw meldete unterdessen einen russischen Luftangriff auf das Dorf Sloboschanske im Nordosten der Ukraine. Dabei seien eine Frau und ihr elfjähriger Sohn getötet worden. Raketenangriffe gab es nach Behördenangaben zudem auf eine Fabrik in Nowomoskowsk sowie auf ein Öldepot in der wichtigen Industriestadt Dnipro. Opfer wurden von dort nicht gemeldet. Die Ukraine hat Russland wiederholt den Einsatz von Phosphorwaffen in zivilen Gebieten vorgeworfen. Phosphorwaffen sind völkerrechtlich nicht explizit verboten, allerdings ist ihr Einsatz laut einer Waffenkonvention von 1980 gegen Zivilisten und in städtischen Gebieten geächtet. Sie können schwerste Verbrennungen sowie Vergiftungen verursachen. Entgegen der russischen Zusicherung vom Vortag wurde nach ukrainischen Angaben auch die Stadt Tschernihiw am Mittwoch weiter beschossen. Der Gouverneur der Region Tschernihiw meldete, die Stadt sei „die ganze Nacht bombardiert“ worden. Die Stadt mit ehemals 280.000 Einwohnern sei noch immer ohne Wasser und Strom, erklärte Wjatscheslaw Tschaus. Nach Mariupol im Südosten ist Tschernihiw die Stadt, die seit Beginn des von Russland am 24. Februar begonnenen Krieges mit am schwersten bombardiert wurde. Wadyslaw Atroschenko, Bürgermeister von Tschernihiw, spricht mit einem Journalisten in der Nähe eines Einkaufszentrums, das durch nächtlichen Beschuss beschädigt wurde. Auch der Kiewer Vorort Irpin stand erneut unter Beschuss, nachdem die ukrainischen Streitkräfte die Stadt wieder unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Laut Bürgermeister Oleksandr Markuschin starben dort seit Beginn des Krieges „ungefähr 200 oder 300 Menschen“.„Im Moment kann man leider nicht feststellen, dass die Russen die Intensität der Feindseligkeiten in Richtung Kiew und Tschernihiw verringern“, sagte Wadym Denysenko, Berater des ukrainischen Innenministers. Selenskyj will um jeden Meter des Landes kämpfen Angesichts dieser Entwicklungen glaubt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht mehr an die russische Zusage einer Reduktion der militärischen Aktivitäten. „Wir glauben niemandem, keiner einzigen schönen Phrase“, sagte der Staatschef am Mittwoch in seiner abendlichen Ansprache. Die ukrainische Führung vertraue nicht auf schöne Worte. Wie es wirklich sei, zeige die Situation auf dem Schlachtfeld Diese zeige indes, dass sich die russischen Streitkräfte umgruppierten, damit sie in der Donbass-Region im Osten stärker angreifen können. Die ukrainische Armee stelle sich auf verstärkte Kämpfe in jener Region ein. Selenskyj kündigte dabei an, dass sein Land um jeden Meter seines Territoriums kämpfen werde. „Wir werden nichts verschenken“, warnte der Präsident. Das war offensichtlich auch an den russischen Außenminister Lawrow gerichtet. Dieser hatte nach den jüngsten Gesprächen in Istanbul von Fortschritten gesprochen und dabei ausdrücklich die Bereitschaft der Ukraine genannt, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten, „ebenso wie die Einsicht, dass die Fragen der Krim und des Donbass endgültig geklärt sind“. Dem widersprach nun Selenskyj ganz klar, indem er ausdrücklich den ukrainischen Anspruch auf den Donbass betonte. Zuvor hatte schon der Sprecher des ukrainischen Außenministeriums, Oleg Nikolenko, Lawrows Aussagen zurückgewiesen: „Die Fragen der Krim und des Donbass werden endgültig geklärt sein, wenn die Ukraine ihre Souveränität über diese Gebiete wiederhergestellt hat“. Unterstützung für diese Forderung erhielt Kiew von den Krimtataren. Die Vertreter der Volksgruppe forderten die ukrainische Regierung auf, bei den Verhandlungen auf eine Rückgabe der von 2014 Russland annektierten Halbinsel Krim zu bestehen. Um die russischen Besatzer zurückschlagen zu können, brauche die Ukraine allerdings zusätzliche militärische Hilfe, sagte Selenskyj in seiner Videoansprache an die Nation. Panzer, Flugzeuge und Artilleriesysteme seien nötig. „Die Freiheit sollte nicht schlechter bewaffnet sein als die Tyrannei.“ Er habe dies auch in seinem Telefonat mit US-Präsident Joe Biden am Mittwoch deutlich gemacht. „Wenn wir wirklich gemeinsam für die Freiheit und die Verteidigung der Demokratie kämpfen, dann haben wir das Recht, an diesem schwierigen Wendepunkt Hilfe zu verlangen.“ Tatsächlich zurückgezogen hat sich das russische Militär jedoch offenbar aus der Gegend um die Atomruine von Tschernobyl. Russische Soldaten würden die Gegend verlassen und in das benachbarte Belarus abziehen, sagte ein Vertreter des US-Verteidigungsministeriums am Mittwoch. „Wir denken, dass sie gehen. Ich kann nicht sagen, dass alle gegangen sind.“ Der Pentagon-Vertreter sprach von einer „Neupositionierung“ der Streitkräfte. Zudem kündigte das russische Verteidigungsministerium eine Feuerpause für die südukrainische Hafenstadt Mariupol an. Die Maßnahme werde am Donnerstag um 10.00 Uhr (Ortszeit; 09.00 Uhr MESZ) in Kraft treten und solle die Möglichkeit schaffen, Zivilisten über einen humanitären Korridor aus der belagerten Stadt herauszuholen, erklärte das Ministerium. „Damit diese humanitäre Operation erfolgreich ist, schlagen wir eine direkte Beteiligung von Vertretern des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) vor“, hieß es in der Erklärung weiter. Der humanitäre Korridor soll demnach über die unter russischer Kontrolle stehende Stadt Berdjansk nach Saporischschja führen. Das Ministerium forderte die Regierung in Kiew auf, die „bedingungslose Einhaltung“ der Feuerpause durch eine schriftliche Mitteilung an die russische Seite sowie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und das IKRK zu bestätigen. Die ukrainische Armee müsse sich außerdem für die Sicherheit der Buskonvois, in denen die Zivilisten transportiert werden sollen, einsetzen, hieß es in der Erklärung. Die ukrainische Regierung bezeichnete die russische Ankündigung jedoch als Versuch der „erneuten Manipulation“. Noch am Mittwoch wurde in der Stadt jedoch ein Gebäude des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) Ziel russischer Luftangriffe. „Feindliche Flugzeuge und Artillerie schossen auf ein Gebäude, das mit einem roten Kreuz auf weißem Grund gekennzeichnet ist“, schrieb Ljudmyla Denisowa, Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, im Online-Dienst Telegram. Mariupol ist seit Wochen von jeglicher Versorgung abgeschnitten und wird von den russischen Streitkräften heftig beschossen. Tausende Menschen starben. Friedensgespräche gehen am Freitag weiter Dem ukrainischen Unterhändler David Arakhamia zufolge, sollen die Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine am Freitag weitergeführt werde. Dieses Mal würden sie allerdings online stattfinden. Nachdem die letzte Verhandlungsrunde in der Türkei zu Ende gegangen war, postete Arakhamia, die Ukraine habe vorgeschlagen, dass sich die beiden Staatsoberhäupter nun treffen sollten. Russland aber habe geantwortet, dass noch mehr Arbeit an einem Vertragsentwurf geleistet werden müsse.