Sunday, January 23, 2022
Ein Vater reist nach Peking, um seinen verlorenen Sohn zu suchen. Jetzt ist er der Held der Nation
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Ein Vater reist nach Peking, um seinen verlorenen Sohn zu suchen. Jetzt ist er der Held der Nation
Katrin Büchenbacher - Vor 11 Std.
Ein ehemaliger Fischer aus der chinesischen Provinz Shandong sucht seinen Sohn in der Hauptstadt. Im Frühling vergangenen Jahres habe er sich aufgemacht, um seinen damals 19-jährigen Sohn, der einst in Peking als Küchenhilfe gearbeitet haben soll, ausfindig zu machen, berichten chinesische Medien diese Woche.
Der sechsfache Vater mit Nachnamen Yue hält sich in Peking als Taglöhner über Wasser, um seine daheimgebliebene Familie zu ernähren. Dann steckt er sich mit der Delta-Variante an. Dadurch erlangt Yue landesweite Bekanntheit. Auf Chinas Social-Media-Plattform Weibo nennen die Nutzer ihn den «am härtesten arbeitenden Mann einer Covid-19-Investigation».
Nachtschicht für einen Hungerlohn
Die Gesundheitsbehörden haben die Aufenthaltsorte von Yue der ersten 18 Januartage minuziös nachverfolgt und veröffentlicht, wie es bei Corona-Fällen in China üblich ist. Wie in einem Logbuch steht zum Beispiel unter dem Datum des 3. Januar geschrieben, dass der 44-jährige Yue von 21 Uhr bis 1 Uhr 37 auf der Baustelle gearbeitet habe, danach auf einer Entsorgungsstelle. Vom 10. bis 14. Januar soll er jede Nacht bis kurz vor Tagesanbruch als Bauarbeiter geschuftet haben. In einem Interview mit chinesischen Medien sagte Yue, er verdiene 200 bis 300 Yuan (umgerechnet zirka 30 bis 40 Franken) pro Schicht und er schlafe jeweils vier bis fünf Stunden am Morgen.
Ganz anders stellten die Weibo-Nutzer die veröffentlichten Informationen des ersten Omikron-Falles in Peking vom 15. Januar dar. Die 26-jährige Frau, eine Bankangestellte, verkehrt offenbar gerne in Luxus-Shoppingmalls. Zu Mittag isst sie in einem der exklusivsten Restaurants der Stadt Pekingente, ihre Lebensmitteleinkäufe macht sie bei Walmart. Am Wochenende fährt sie Ski, abends vergnügt sie sich bei einer angesagten Live-Talkshow.
Der Fall löste eine Debatte über soziale Ungleichheit aus. Obwohl Wanderarbeiter allgegenwärtig sind in Chinas Metropolen, überschneidet sich ihre Welt selten mit jener der gebildeten und gutsituierten Stadtbewohner. Die Medien schweigen tot, unter welch harten Bedingungen die unterqualifizierten Arbeitskräfte vom Land in der Stadt als Bauarbeiter, Abfallentsorger oder Zulieferer arbeiten. Noch unbekannter für die Städter sind die Lebensumstände auf dem Land. Die Frau von Yue, die sich um den jüngeren Sohn kümmert, verdient mit dem Trocknen von Algen etwa 100 Yuan pro Tag.
Xi will die Einkommenslücke verringern
Soziale Ungleichheit ist jedoch schon lange ein Aufregerthema in China. Viele Menschen sagen hinter vorgehaltener Hand, unter Mao Zedong, als ein Ingenieur so viel verdiente wie ein Bauer und Grundbedürfnisse wie Wohnen, Gesundheits- und Altersvorsorge vom Staat übernommen wurden, sei vieles besser gewesen. Man sei zwar arm gewesen, dafür habe ein Gemeinschaftsgefühl geherrscht. Heute sei alles dem ewigen, ermüdenden Wettbewerb untergeordnet. Neureiche, die sich danebenbenehmen, sorgen regelmässig für Entrüstungsstürme auf sozialen Netzwerken. Der Traum vom sozialen Aufstieg ist heute noch schwieriger umzusetzen für viele Junge, die sich nicht mehr vorstellen können, selbst eine Familie zu gründen.
Xi Jinpings Kampagne, bis 2035 grosse Fortschritte beim Erreichen des «gemeinsamen Wohlstands» zu erzielen, stösst deshalb auf offene Ohren – und stützt damit die Herrschaftslegitimation der Kommunistischen Partei. Der Begriff geht auf Mao zurück. Xi hat den «gemeinsamen Wohlstand» nach dem «Sieg» über die Armut zu seiner Priorität erklärt: So ging die Regierung seit Ende 2020 vermehrt gegen die grossen Tech-Unternehmen und die private Bildungsindustrie vor, Stars wurden für Steuerhinterziehung zur Rechenschaft gezogen. Reiche Personen und Unternehmen sollen mithelfen, Einkommen gerechter zu verteilen, den Mittelstand zu vergrössern und die Schwachen in der Gesellschaft zu unterstützen.
Ist der verlorene Sohn bereits verstorben?
Die Suche Yues nach seinem Sohn nahm am Freitag eine Wende. Die örtliche Polizei des ehemaligen Arbeitsorts von Yue in der Provinz Shandong teilte in einem Statement mit, dass der Sohn Yues bereits vor einem Jahr, zwei Wochen nach seinem Verschwinden, für tot erklärt worden sei. Die Eltern hätten sich jedoch geweigert, seinen Tod zu akzeptieren, und weitere Nachforschungen in dem Fall angefordert.