Sunday, January 30, 2022

Ukraine-Konflikt: „Wir sollen in ständiger Angst leben“ – Präsident Selenski warnt vor Panik

Handelsblatt Ukraine-Konflikt: „Wir sollen in ständiger Angst leben“ – Präsident Selenski warnt vor Panik Brüggmann, Mathias - Gestern um 23:30 Die Angst vor einem Krieg destabilisiert die Ukraine auch wirtschaftlich immer stärker. Das stoppt die zuletzt positive Entwicklung – und stürzt das Land in eine tiefe Krise. „Momentan greifen sie nicht unsere Erde an, sondern unsere Nerven. Wir sollen in ständiger Angst leben“, sagt Wolodimir Selenski mit düsterer Miene an sein Volk gerichtet über Russland und einen möglichen Krieg. „Keine Panik“, ruft der ukrainische Präsident in die Kamera und fordert seine Mitmenschen auf, jetzt nicht die Läden zu stürmen, Regale mit Hamsterkäufen zu plündern und die Sparkonten zu leeren, um die heimische Währung Hrywnja in Euro oder Dollar zu tauschen. Jeden Tag darüber zu reden oder zu berichten, „dass der Krieg kommt, wird ihn sicher nicht aufhalten“, resümiert der am Dienstag 44 Jahre alt gewordene Staatschef. Durchhalteparolen, Aufrufe zur Ruhe und die Bitte, nicht auf immer lautere russische Propaganda hereinzufallen, beherrschen die politische Agenda in Kiew. Wenn auch der Westen ständig von einem unmittelbar bevorstehenden Einmarsch warne, „schürt das nur Panik und zerstört unsere Wirtschaft“. Sein Land aber brauche, so Selenski, „Investitionen, die Vertrauen in die Ukraine signalisieren“. Der russische Aufmarsch mit zuletzt 109.000 Soldaten und gut 10.000 Personen an Servicepersonal an den Grenzen der Ukraine hat bereits jetzt tiefe Bremsspuren in der ukrainischen Wirtschaft hinterlassen. Und US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hatte am Freitag gesagt: Seine Regierung glaube zwar nicht, dass der russische Präsident Wladimir Putin bereits einen endgültigen Beschluss zum Einmarsch gefasst habe. Aber „er verfügt jetzt eindeutig über diese Fähigkeit“. Großbritanniens Premier Boris Johnson kündigte indes am Sonntag eine Aufstockung seiner Truppen in Osteuropa an und – wie Frankreich – die Verlegung von Militärtechnik ostwärts. Selenski indes nennt solche Aussagen inzwischen „Panik“, die die Ukraine „teuer zu stehen kommt“. Tatsächlich hat die Zentralbank in Kiew (NBU) den Leitzins vor zehn Tagen auf zehn Prozent hochgesetzt – so hoch wie in keinem anderen Land Europas. Die Inflation ist auf den gleichen Wert gesprungen. Die Prognose für das Wirtschaftswachstum senkte die NBU um 0,4 Prozentpunkte auf 3,4 Prozent. Und aus der Notenbank hieß es: Die Ukraine sei inzwischen zeitweise von den internationalen Kapitalmärkten abgeschnitten, da ausländische Investoren ukrainische Schuldverschreibungen massiv verkauft hätten. Und Neuemissionen kaum noch möglich seien, da die Renditen für bereits am Markt befindliche Papiere inzwischen deutlich höher lägen – in der Spitze vorige Woche bei 27 Prozent – als die Zinsen für die neuen Schulden. Die EU hat bereits Finanzhilfen über 1,2 Milliarden Euro verkündet, und auch die USA erwägen entsprechende Hilfen. Dabei hatte sich die Wirtschaft der Ukraine zuletzt deutlich erholt: 2021 war sie immerhin um drei Prozent gewachsen – und damit auf den höchsten Wert des Bruttoinlandsprodukts auf Dollar-Basis seit der Unabhängigkeit vor gut 30 Jahren: 184 Milliarden Dollar. Die Gewinne der noch vor einem Jahrzehnt schwer angeschlagenen ukrainischen Banken hatten sich 2021 auf 2,6 Milliarden Dollar fast verdoppelt. Die international immer angesehenere ukrainische IT-Industrie konnte ihre Exporte auf den Rekordwert von 6,8 Milliarden Dollar steigern, ein Plus von 36 Prozent. Die Erzeugung erneuerbarer Energien stieg auf acht Prozent und soll 2030 bereits 27 Prozent am Strombedarf des Landes ausmachen. Die unter Selenski begonnene Privatisierung von Ackerland nahm Fahrt auf. Nur klimabedingte teilweise Ernteausfälle in der Ukraine, die einer der wichtigsten Weizen- und Maisexporteure der Welt ist, verhinderten ein noch höheres Wirtschaftswachstum im vorigen Jahr. Jetzt schlagen Entwicklungshilfeorganisationen Alarm, dass es in Teilen der Welt zu Hungersnöten käme im Falle eines Krieges mit Russland. Denn die besonders ertragreichen, berühmten ukrainischen Schwarzerdeböden liegen vor allem im Süden und Osten des größten Flächenstaates Europas, wo unweit besonders viele russische Streitkräfte konzentriert sind. Das Selenski-Lager ist inzwischen gespalten Aus dem Umfeld Selenskis werden inzwischen unterschiedliche Signale gesendet: Militärs und Sicherheitskräfte sorgen sich massiv vor einem in Kürze bevorstehenden russischen Angriff. Innen- und Wirtschaftspolitiker versuchen, die Bevölkerung zu beruhigen. Selenski selbst warnt inzwischen aus Angst vor dem Kollaps seiner Wirtschaft davor, „immer von Krieg zu sprechen. Das hält ihn auch nicht auf.“ Auch Roman Sulschik, Ökonom in Kiew und früher Banker bei JP Morgan und Deutscher Bank, ist bisher davon überzeugt, dass es noch „keinen Grund zur Panik gibt“. Man müsse „den Schmerz des fallenden Marktes“ nur für einige Zeit „aushalten“. Derweil soll aber der ukrainische Geheimdienst seine wichtigsten Anlagen und Unterlagen aus der Hauptstadt Kiew in den Westen des Landes verlagert haben, berichtete die „Washington Post“. Immer mehr Ukrainer lassen sich an Wochenenden in Kursen militärisch ausbilden, um mit Freiwilligenverbänden die Armee zu unterstützen. Andere bereiten offenbar bereits ihre Flucht vor: Und der polnische Innenstaatssekretär Maciej Wasik erklärte am Wochenende, sein Land erwarte im Falle eines russischen Angriffs auf die Ukraine eine Million Flüchtlinge aus dem Nachbarland. Auch Tschechien rechnet für diesen Fall mit einer großen Flüchtlingswelle. Immer neue Cyberangriffe auf die Ukraine Unterdessen nehmen auch die Cyberangriffe auf die Ukraine wieder zu: Am Wochenende wurden E-Mails der Justiz bekannt, in denen neben Informationen aus Gerichten auch Computerviren gesendet werden. Schon vor zwei Wochen wurden reihenweise Internetserver und Webseiten ukrainischer Behörden gehackt und lahmgelegt sowie massenhaft Schadsoftware installiert. Und die russische Bedrohung unterminiert inzwischen immer stärker die wirtschaftliche Erholung und destabilisiert die Ukraine. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer russischen Doppelstrategie, die die ukrainische Führung wahrnimmt: Neben der militärischen Bedrohung von außen findet demnach eine Zersetzung von innen statt durch Cyberangriffe und als seriös getarnte Propaganda. Ziel ist nach Ermittlungen britischer Geheimdienste, ein „Regimechange“ – das Ersetzen der EU- und Nato-freundlichen Regierung in Kiew durch ein moskautreues Regime. Das genau wirft der Kreml dem Westen andersherum immer vor: Der Westen wolle durch von ihm gesteuerte Oppositionsgruppen die russische Führung stürzen und durch eine prowestliche Regierung ersetzen.