Monday, January 24, 2022

Bloody Sunday: Wie Boris Johnson ein Massaker vergessen machen will

Berliner Kurier Bloody Sunday: Wie Boris Johnson ein Massaker vergessen machen will Gestern um 17:34 In der Hand ein blutbeflecktes weißes Taschentuch schwenkend, den beinahe kahlen Kopf nach unten geduckt, geht ein Priester mit vorsichtigen Schritten durch die Gassen der nordirischen Stadt Derry/Londonderry Um ihn herum hallen Schüsse. Er bedeutet einer Gruppe von Männern, ihm zu folgen - sie tragen einen tödlich Verwundeten vorbei an schwer bewaffneten Soldaten. Die Szene stammt aus Aufnahmen vom 30. Januar 1972. Der Sonntag vor 50 Jahren, der als „Bloody Sunday“ in die Geschichte eingehen sollte, wird zum Kristallisationspunkt des Nordirland-Konflikts und rückt den Bürgerkrieg im äußersten Westen Europas schlagartig ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. 13 katholische Teilnehmer eines Bürgerrechtsmarsches werden damals in der Stadt durch Schüsse der britischen Armee getötet - teilweise geradezu hingerichtet. Keines der Opfer ist bewaffnet. Die Reaktionen sind verheerend. Hunderte Freiwillige schließen sich der Terrororganisation IRA an. Das Jahr 1972 wird zum blutigsten des als „Troubles“ bezeichneten Konflikts in der Provinz. „Bloody Sunday nahm den Menschen das Gefühl, dass sie in einer demokratischen Gesellschaft leben, in der Wandel möglich ist und in der das Rechtsstaatsprinzip ein wichtiges Konzept ist“, sagt Paul O'Connor vom Pat Finucane Centre in Derry, einer Interessenvertretung für Hinterbliebene von Gewaltopfern. Der einzige Ausweg für die in der nordirischen Gesellschaft benachteiligten Katholiken scheint damals eine Wiedervereinigung mit der irischen Republik im Süden - notfalls mit Waffengewalt. Den Republikanern stehen bis heute die Loyalisten gegenüber, in der Regel Protestanten, die Nordirland im Vereinigten Königreich halten wollen. Schon beim Namen der Stadt Derry / Londonderry zeigt sich die Kluft. Fünf Jahrzehnte später sind die Wunden noch immer nicht geschlossen. Schlimmer noch: sie drohen wieder aufzureißen. Denn obwohl der damalige Premierminister David Cameron im Jahr 2010 nach Abschluss einer ausführlichen Untersuchung die Unschuld der Demonstranten und das Fehlverhalten der Armee eingestand, ist bis heute kein einziger der 15 beteiligten Soldaten vor Gericht gestellt worden. Und nun plant die Regierung in London auch noch ein Gesetz, das jegliche Strafverfolgung, Zivilprozesse oder auch nur öffentliche Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Nordirland-Konflikt unmöglich machen soll. Dabei ist das Bedürfnis nach Aufarbeitung riesig: Der Konflikt zwischen den meist katholischen Befürwortern der Wiedervereinigung und den überwiegend protestantischen Anhängern der Union Nordirlands mit Großbritannien kostete zwischen 1968 und 1998 mehr als 3600 Menschen beider Seiten das Leben - meist durch die Hand von Paramilitärs wie der IRA. Mit dem Gesetzesvorhaben sollten Veteranen vor „rechtsmissbräuchlichen Verfahren“ geschützt werden, sagte Premierminister Boris Johnson im Parlament in London im vergangenen Sommer. Außerdem werde den Menschen die Möglichkeit gegeben, „einen Strich unter die Troubles“ zu ziehen, befand er. Tatsache ist aber, dass außer Johnsons Tory-Partei diese Pläne praktisch niemand unterstützt. Weder die nordirischen Parteien, egal auf welcher Seite, noch die irische Regierung oder die Überlebenden und Hinterbliebenen. Der Regierungschef Irlands Micheàl Martin bezeichnete das Vorhaben erst Mitte Januar als „Verrat an den Opfern aller Gewalt.“ Die Regierung in London habe die Aufarbeitung schon viel zu lange verschleppt, kritisierte er. Die harschen Worte spiegeln das Verhältnis zwischen Dublin und London wider: Es sei so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr, sagt die Konfliktforscherin Katy Hayward von der Queen's University Belfast im dpa-Gespräch. Schuld daran ist vor allem der Brexit. Die Grenze zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil der irischen Insel glich während des Bürgerkriegs einem Bollwerk mit Türmen und Stacheldraht. Das änderte sich mit dem Friedensschluss durch das Karfreitagsabkommen 1998 - die Trennlinie wurde beinahe unsichtbar. Die Ungleichbehandlung von Protestanten und Katholiken nahm ab. Das Leben unter britischer Herrschaft schien wieder möglich. Doch das drohte der EU-Austritt Großbritanniens zunichte zu machen, Kontrollen wurden plötzlich wieder nötig, weil die irische Grenze zur EU-Außengrenze wurde. Das zu verhindern, erwies sich als extrem schwierig. Die frühere Premierministerin Theresa May versuchte, die Quadratur des Kreises zwischen den Forderungen der Brexit-Anhänger in London und den beiden Konfessionen in Nordirland sowie der EU zu finden - und scheiterte. Lesen Sie auch: Schock-Studie zu Hartz IV: Herr Yıldırım wird schärfer sanktioniert als Herr Bergmann >> Ihr Nachfolger Johnson hielt sich damit nicht lange auf. Er schloss gegen den Widerstand der protestantischen Parteien ein Abkommen mit Brüssel, dessen Konsequenz - eine Warengrenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs - er umgehend abstritt und inzwischen versucht, wieder rückgängig zu machen. Das sogenannte Nordirland-Protokoll ist seitdem Zankapfel zwischen London und Brüssel - mit ungewissem Ausgang. Das Ergebnis ist, dass laut Umfragen nur vier Prozent der Menschen in Nordirland - gleich welcher Konfession - noch Vertrauen in die nationale Regierung in London haben, wie Konfliktforscherin Hayward sagt. Was das alles für den Friedensprozess bedeutet? „50 Jahre nach Bloody Sunday ist die Frage der Wiedervereinigung Irlands so sehr auf der Tagesordnung wie noch nie seither“, sagt O’Connor.