Sunday, December 31, 2023
Weg mit der rosaroten Brille!
RP ONLINE
Weg mit der rosaroten Brille!
Artikel von RP ONLINE •
5 Std.
Düsseldorf. Hierzulande ist die objektive Lage besser als die Stimmung. Nicht Zuversicht muss angemahnt werden, sondern Realismus – und das auch mit Blick auf den Krieg in der Ukraine.
1. Januar 2023 – Silvesterbilanz Schwere Unfälle und Straftaten mit Feuerwerkskörpern haben die Rückkehr des großen Silvesterböllerns in Deutschland überschattet. Ein 17-Jähriger in Leipzig verletzte sich beim Einsatz von Pyrotechnik so schwer, dass er im Krankenhaus starb, wie die Polizei an Neujahr mitteilte. In Sachsen-Anhalt wurde ein Mann beim Böllern auf der Straße von einem Auto erfasst und getötet. Unter anderem in Berlin wurden zudem Einsatzkräfte angegriffen und verletzt. Und auch die Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste in Nordrhein-Westfalen hatten in der Neujahrsnacht gutzutun.
Zuversicht ist eine Haltung, die sich in guten Zeiten von selbst ergibt. Dann braucht man keine rosarote Brille, die Zukunft sieht ohnehin famos aus. Insofern belegen die zahlreichen Neujahrsappelle, die mehr Zuversicht einfordern, vor allem doch eines: dass wir uns in schlechten Zeiten zu befinden scheinen. „Krisenmodus“ wurde treffenderweise zum Wort des Jahres gekürt.
Aber sind die Zeiten eigentlich schlecht? Objektiv betrachtet liegen die Dinge in Deutschland viel besser, als sich vor einem Jahr erwarten ließ. Die Inflation hat sich auf Normalmaß verringert, vor allem die Energiekosten sind längst nicht so hoch wie gedacht. Auch ohne russisches Pipeline-Gas herrscht keine Mangellage, zum zweiten Mal in Folge scheint das auch im Winter so zu sein. Die Arbeitslosigkeit bleibt extrem niedrig. Nach wie vor ist unser Land die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt; stagnierend zwar, aber auf hohem Niveau.
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Jener „Krisenmodus“, der sich breitmacht wie der Rhein in diesen nassen Wintertagen, gilt denn auch weniger den harten Daten, sondern ausweislich der Umfragen vor allem der Bundesregierung. Tatsächlich bietet die Ampelkoalition samt ihrem wortkargen Bundeskanzler ein jämmerliches Bild der Zerstrittenheit und Planlosigkeit. Allein, es waren die Wählerinnen und Wähler, die dieses Bündnis ungleicher Partner vor nur etwas mehr als zwei Jahren geradezu erzwungen haben. Rechnerisch möglich gewesen wäre auch die Viererkoalition aus CDU, Grünen, FDP und CSU – aber die wollte außer Armin Laschet niemand so richtig. Schon gar nicht das Wahlvolk.
Wer hat 2023 politisch gepunktet, wer verloren? Wir haben Persönlichkeiten gefunden, die 2023 für Aufsehen gesorgt haben – und ihr politisches Standing entweder gestärkt oder gemindert haben. So etwa Sahra Wagenknecht. Sie kam auf jeden Fall 2023 ganz groß raus. In einem lang geplanten Schritt verließ sie unter Getöse die Linkspartei, brachte die Bundestagsfraktion damit nicht nur an den Rand, sondern zur Auflösung.
Wer zurückschaut, merkt jedoch schnell, dass aufreibende Koalitionsstreitigkeiten, faule Kompromisse und fehlerhafte Gesetze der deutschen Politik seit Jahrzehnten allzu vertraut sind. Offensichtlich hat sich der Schaden in Grenzen gehalten. Und das, was wirklich nicht gut funktioniert, tut es seit Langem nicht, von den Pisa-Ergebnissen der Schulen über die marode Deutsche Bahn bis hin zum ausgereizten Rentensystem. Zu hoffen, diese Dinge seien schleunigst zu ändern, am besten sofort, ist töricht. Und das gilt auch für die Migration. Ganz so einfach, wie es sich in Slogans und Posts behaupten lässt, liegen die Dinge auch hier nicht. Reformen sind möglich, dauern aber.
Die Frustration zur Halbzeit kennt man aus dem Fußball, manchmal wird es dann besser. Aber ebenso wie das Spiel hat auch die Legislaturperiode eine feste Dauer – gewählt wird in knapp zwei Jahren. Ja, einer der Ampelkoalitionäre könnte vorher aussteigen – aber warum sollte man? Für SPD und FDP wäre es Harakiri, und für die etwas stabileren Grünen gäbe es keine Machtoption. Denn sie hat Friedrich Merz zum „Hauptgegner“ erklärt, da wird keine Koalition draus. Sein stetes Rufen nach Neuwahlen ändert an der Konstellation nichts. Wo er in zwei Jahren steht, muss sich zeigen.
In diesem „Krisenmodus“ der Gesellschaft, der von objektiv ordentlichen Wirtschaftsdaten begleitet wird, braucht es nicht Zuversicht, sondern Realismus. Weder eine rosarote Brille noch jenes Modell aus „Per Anhalter durch die Galaxis“, das sich bei Gefahr verdunkelt, sind gefragt. Realismus im Inneren bedeutet zum Beispiel, beim Schutz des Klimas die Verzichtbereitschaft der Menschen nicht zu überschätzen. Das nachgebesserte Heizungsgesetz trägt dem Rechnung. Oder: Realistischerweise lässt sich die sogenannte irreguläre Migration in einem europäischen Binnenmarkt schwer steuern. Aber wie die Zugezogenen dann hier erfasst, verwaltet und versorgt werden, ob sie bleiben können oder gehen müssen, eben schon. Die jüngsten Kompromisse zwischen Bund und Ländern folgen diesem Ansatz.
Polizisten im Einsatz in der Berliner Silvesternacht.
1. Januar 2023 – Silvesterbilanz Schwere Unfälle und Straftaten mit Feuerwerkskörpern haben die Rückkehr des großen Silvesterböllerns in Deutschland überschattet. Ein 17-Jähriger in Leipzig verletzte sich beim Einsatz von Pyrotechnik so schwer, dass er im Krankenhaus starb, wie die Polizei an Neujahr mitteilte. In Sachsen-Anhalt wurde ein Mann beim Böllern auf der Straße von einem Auto erfasst und getötet. Unter anderem in Berlin wurden zudem Einsatzkräfte angegriffen und verletzt. Und auch die Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste in Nordrhein-Westfalen hatten in der Neujahrsnacht gutzutun.
Eine realistische Betrachtung des Äußeren führt allerdings selbst bei bestem Willen nicht zu Zuversicht. Nach dem gezielten mordlüsternen Angriff der Hamas auf jüdische Zivilisten in Israel herrscht Krieg in Gaza, dabei kommen viele palästinensische Zivilisten ums Leben. Diplomatisch verheddert sich Deutschland gelegentlich zwischen Staatsräson und Mitleid, etwa bei Uno-Resolutionen, aber bleibt doch verlässlicher Partner. Zu einer Lösung des Nahostkonflikts kann die Bundesregierung wenig beitragen, und muss es vielleicht auch nicht.
Mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine verbindet Deutschland ungleich größere strategische Interessen. In Kürze gehen die Kämpfe in ihr drittes Jahr. Inzwischen zeigt sich deutlich, was der Unterschied zwischen „Die Ukraine darf nicht verlieren“ (Olaf Scholz) und „Die Ukraine muss gewinnen“ (Boris Pistorius) konkret bedeutet. Die Hilfen des Westens reichen für ein militärisches Patt, aber die Besatzertruppen lassen sich nicht aus dem Land drängen. Im März stehen die Pseudo-Präsidentschaftswahlen in Russland an, aus denen Wladimir Putin gestärkt hervorgehen dürfte. Im November geht es in den USA ums Weiße Haus; Donald Trump könnte Joe Biden ablösen und die jetzt schon umstrittene Unterstützung der Ukraine ganz stoppen.
Realistisch betrachtet sind weder eine militärische Entscheidung noch eine Verhandlungslösung im neuen Jahr wahrscheinlich. Deswegen sollte Deutschland zu einem realpolitischen Ansatz finden: Was lässt sich überhaupt – notfalls auch ohne die USA – erreichen? Wo decken sich die Interessen der Ukraine und Deutschlands und wo eben nicht?
Im Inneren braucht es keine rosarote Brille, weil die objektive Lage besser ist als die Stimmung. Im Äußeren schadet sie sogar, weil sie einen präzisen Blick verhindert. Mehr Zuversicht von den Menschen zu fordern, klingt in diesen Zeiten wie eine hohle Phrase. Die Bundesregierung ist vielmehr gefordert, sich ehrlich zu machen, innen wie außen, und dann konsequent einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Politik wird gerne mit dem angeblichen Bismarck-Zitat als „Kunst des Möglichen“ beschrieben, und davon würde man in den knapp zwei Jahren bis zur Bundestagswahl gerne mehr sehen.