Sunday, December 31, 2023
Schweden: Wie das Land zum Schauplatz blutiger Bandenkriege wurde
DER SPIEGEL
Schweden: Wie das Land zum Schauplatz blutiger Bandenkriege wurde
Artikel von Niklas Franzen •
8 Std.
In den allermeisten europäischen Ländern sinkt die Mordrate. Nicht so in Schweden. In dem wohlhabenden Land explodieren Bomben; immer mehr Menschen sterben an Schusswunden. Wie konnte es so weit kommen – und was hilft?
Franco Villarreal beugt sich vor, steckt seinen Finger in das Einschussloch. Er stochert, drückt, stopft. Doch es hilft nichts, das Blut läuft in Strömen. Der Arm ist nicht echt, er ist aus Plastik. Durch eine kleine Flasche wird rote Farbe zur Einschussstelle gepumpt.
Villarreal, gebürtiger Chilene und Lehrer, ist an einem bitterkalten Sonntag in das Stockholmer Kulturzentrum »Värmeverket« gekommen. Das ehemalige Heizwerk liegt im Westen der schwedischen Hauptstadt. In einem lichtdurchfluteten Raum sitzen gut ein Dutzend Teilnehmer auf Matten, auch einige Kinder sind da. Heute lernen sie hier, was bei Schießereien zu tun ist, wie man Schusswunden versorgt. Es sind Rollenspiele für den Ernstfall. »Es macht mir Angst, dass wir mittlerweile in Schweden solche Fähigkeiten brauchen.«
Die Gruppe »Gatans Förband«, was übersetzt Straßenverband bedeutet, organisiert die Workshops. Bei schweren Blutungen sei es wichtig, sich mit dem ganzen Gewicht auf die Wunde zu stemmen, sagt Pär Plüschke, und demonstriert das an einem Kollegen. Seit vielen Jahren engagiert sich Plüschke, 46, hochgewachsen, in seiner Nachbarschaft. Er bezeichnet sich als progressiven Prepper – ein Mensch, der zwar nicht an Verschwörungstheorien glaubt, sich aber trotzdem auf Katastrophen vorbereitet. Eine solche erlebte Plüschke am 10. April 2022.
An jenem Tag wartet er gerade in einer Pizzeria auf seine Bestellung. Plötzlich knallte es. Er blickte nach draußen, sah einen jungen Mann auf dem Asphalt liegen und stark bluten. Plüschke rief den Notarzt, rannte nach draußen. »Es war herzzerreißend, seine Freunde zu sehen.« Sie brüllten einfach nur. »Bleib bei uns, bleib bei uns.« Mit der Situation waren sie völlig überfordert. Der junge Mann starb noch vor Ort. Am nächsten Tag traf Plüschke die Jungs bei einer Gedenkveranstaltung wieder und bot ihnen an, sie in Erster Hilfe zu schulen. So entstand die Idee: ein Seminar für die Versorgung von Schusswunden, von Nachbarn für Nachbarn. Regelmäßig finden die Workshops nun statt. Das Interesse sei groß.
Schweden: freundlich durch den Winter
Denn Schweden hat ein Problem: In dem skandinavischen Land eskaliert die Bandenkriminalität. Allein im September 2023 starben elf Menschen bei Schießereien, darunter ein 13-Jähriger. Viele Täter sind ebenfalls fast noch Kinder, auch Unbeteiligte starben im Kugelhagel. In den Zeitungen kann man von Bombenanschlägen lesen, die ganze Häuserzeilen wegreißen. Schweden, einst eines der sichersten Länder der Welt, hat heute die zweithöchste Todesrate durch Schusswaffen in Europa. Während die Mordrate fast überall auf dem Kontinent rückläufig ist, steigt sie in Schweden. Es gilt die höchste Terrorwarnstufe. Wie konnte es so weit kommen?
Um das zu verstehen, muss man in Gebiete wie Tensta fahren. Der Stadtteil liegt im Nordwesten Stockholms; viele Menschen mit Migrationshintergrund leben hier. Zwischen den grauen Häuserblocks und Fußballplätzen spielte sich Faysa Idles altes Leben ab. Sie wuchs in einer somalischen Familie auf, fünf Geschwister, Mutter mit drei Jobs. Im Café eines Luxushotels erzählt Idle, 25, davon, wie sie zwischen die Fronten geriet.
Kaum jemand habe sich damals vorstellen können, dass die Situation so eskalieren würde. Damals, das war vor 2015. Tensta sei ein guter Ort zum Leben gewesen, sagt sie. Doch dann zog die Gewalt den Stadtteil in ihren Strudel. Idles Bruder war ein bekannter Bandenchef. »Die anderen Gangs benutzten mich, um an ihn heranzukommen.« Einmal schlugen ein paar Gangster sie zusammen. 2015 wurde ihr bester Freund erschossen, drei Jahre später ihr ältester Bruder. »Wenn Menschen um einen herum sterben, verliert man sein Sinngefühl. Man hasst das Leben.« Weil sie nicht weinen konnte, habe sie begonnen zu schreiben. Im September 2023 erschien ihr autobiografischer Roman »Ett ord för blod« (Ein Wort für Blut). »Das hat mich wieder zum Leben erweckt.«
Die rasant gestiegene Gang-Gewalt in Schweden spiegelt Verschiebungen in der Welt des organisierten Verbrechens: Anstelle einiger großer Banden mit klaren Hierarchien ist die Szene heute zersplittert, gibt es viele kleinere Gruppen. Oft schließen sich einfach ein paar Freunde aus dem gleichen Wohnblock zusammen und steigen ins Geschäft ein: Heute ist es leichter, große Drogenmengen im Ausland zu bestellen und dann weiterzuverkaufen, denn auch global betrachtet hat sich die Szene diversifiziert.
In den schwedischen Vororten werden aus ehemaligen Kindheitsfreunden nicht selten erbitterte Feinde, die in unterschiedlichen Gangs gegeneinander kämpfen. Auch in Idles Viertel war das so. »Sie hassen sich, weil sie sich früher einmal geliebt haben«, sagt sie. Mittlerweile sei so viel Blut geflossen, dass man keinen Frieden mehr schließen könne. Auch, weil der Ehrenkodex der alten Gangster nicht mehr gilt und selbst Familienangehörige ermordet wurden. In sozialen Medien prahlen die jungen Männer mit ihren Taten. Die Gen Z spielt Krieg.
Was die Gewalt in Schweden zusätzlich anheizt: Seit den Balkan-Kriegen gibt es viele Waffen in dem nordeuropäischen Land. Außerdem sind die Strafen für Gewaltverbrechen niedriger als andernorts. Um die Strafmündigkeit zu umgehen, werden immer jüngere Täter losgeschickt. Teenager werden so zu Mördern.
In Faysa Idles Leben gab es einen Wendepunkt. 2020, die Hochzeit ihres Bruders, außerhalb von Stockholm. Plötzlich brach Panik auf der Tanzfläche aus, denn eine Nachricht hatte die Runde gemacht: Drei schwer bewaffnete Jugendliche waren ganz in der Nähe von der Polizei gestoppt worden. »Sie waren auf dem Weg, um uns zu töten.« Auf die ganze Familie waren Kopfgelder ausgesetzt. Sie habe sich gefragt, ob auch ihr Bruder fähig wäre, unschuldige Menschen zu töten? Sie musste raus, ihr altes Leben hinter sich lassen. Idle zog um, beendete Freundschaften, kehrt kaum noch nach Tensta zurück. Heute lebt sie an einer geheimen Adresse. »Das tut mir im Herzen weh, aber es muss so sein.«
Für viele linke Schweden hängt die Gewalteskalation auch mit hausgemachten Problemen zusammen. Im Ausland gilt das Land noch als sozial gerechter Wohlfahrtsstaat, dabei baut es seit vielen Jahren Sozialleistungen ab, die Armut nimmt zu. Laut einer Oxfam-Studie ist Schweden inzwischen eines der ungleichsten Länder der Welt.
Im Zentrum von Stockholm leben fast nur weiße Schweden, in der Vorstadt überwiegend Migranten, so sieht es in vielen Städten aus. Auch Idle, die mit ihrem Buch eine Debatte über Integration auslöste, meint: Es gibt zwei Schwedens. Sie habe sich nie als Teil der Mehrheitsgesellschaft gefühlt. Von Lehrern bekam sie zu hören: Aus dir wird eh nichts! Viele ihrer Freunde finden keine Jobs, trotz Abschluss. Doch erklärt das, warum Jugendliche mit Kalaschnikows losziehen, um ihre Nachbarn zu töten?
Für Richard Jomshof ist die Antwort auf diese Frage klar: Multikulturalismus und Massenimmigration seien schuld. Der 54-Jährige mit dem akkuraten Seitenscheitel sitzt in einem Büro im Reichstagsgebäude. Jomshof ist Politiker der rechtsradikalen Partei Schwedendemokraten und Vorsitzender des Justizausschusses. Jomshof ist für Provokationen und markige Sprüche bekannt. Im Juli bezeichnete er den Propheten Mohammed als »Kriegsherrn, Massenmörder, Sklavenhändler und Räuber«.
Darüber dass sich viele Migranten über Diskriminierung beschweren, kann Jomshof nur lachen. Schweden sei eines der Länder, in denen es am wenigsten Rassismus gebe. Der Großteil der Probleme allerdings hätte mit dem Zuzug von Menschen aus dem Nahen Osten angefangen, sagt er.
Tatsächlich sind 85 Prozent derjenigen, die an tödlichen Schießereien beteiligt waren, im Ausland geboren oder haben einen ausländischen Elternteil. Doch wer trägt die Schuld? Der Staat oder die Neu-Schweden? Nicht die Herkunft mache junge Menschen anfällig für Kriminalität, sagen Experten, sondern sozioökonomische Faktoren. Jomshof sieht das anders. »Wir geben ihnen Schulen, wir geben ihnen Wohnungen, wir geben ihnen Essen. Das Hauptproblem ist kulturell bedingt, sie wollen nicht Teil unserer Gesellschaft sein.« Nicht alle Migranten seien gleich, sagt er, er selbst habe Freunde aus dem Ausland. Aber eins stehe fest: Um die Kriminalität effektiv zu bekämpfen, müsse die Einwanderung gestoppt werden.
Seit der letzten Wahl im September 2022 ist seine Partei endgültig im Mainstream angekommen: Die Schwedendemokraten holten die zweitmeisten Stimmen. Im Oktober 2022 kam die bürgerliche Minderheitsregierung unter Ulf Kristersson von der Moderaten-Sammlungspartei an die Macht. Jomshofs Partei ist zwar nicht Teil der Regierung, diese ist im Parlament aber auf Rechtsaußen angewiesen – und das spiegelt sich im politischen Diskurs wider: Im September richtete sich Premierminister Ulf Kristersson mit einer Ansprache an sein Volk. »Schweden hat noch nie zuvor so etwas gesehen«, sagte er über die Gang-Gewalt. Bei seinem Amtsantritt hatte er versprochen, die »inländischen Terroristen« zu jagen und das sogenannte Tidö-Abkommen vorgestellt. Es sieht unter anderem eine radikale Verschärfung der Einwanderungsgesetze und eine harte Hand gegen Kriminalität vor. Sieht so die Lösung für Schwedens Probleme aus?
Therese Shekarabi stapft durch den Schnee, vorbei an Wohnblocks und kleinen Geschäften. Am Gürtel hängt gut sichtbar eine Pistole. Die 46-Jährige mit den stechend blauen Augen ist Polizistin in einem Stadtteil, der es landesweit zu Bekanntheit brachte: Rinkeby. Es war einer der ersten Orte, wo »der Konflikt« eskalierte. Bis nach Tensta, wo Faysa Idles aufwuchs, ist es nicht weit. Früher lebten hier viele Studenten. In den 1980 und 1990 Jahren zogen die weißen Schweden weg – und mit ihnen die Geschäfte und Dienstleistungen.
Auf dem Platz vor der U-Bahn bleibt sie stehen. Ein älterer Mann kommt vorbei. »Hey Jama!« Hände schütteln, ein kurzes Gespräch. Dann muss er weiter, zum Gebet in die Moschee. »Sein Sohn wurde erschossen«, sagt Shekarabi. »Wir haben viel mit der Familie gearbeitet.«
Vor drei Jahren wurde mitten im Viertel eine Polizeistation eröffnet. Obwohl sie einer Festung gleicht, sieht das Konzept Bürgernähe vor. Sozialarbeiterinnen sind hier stationiert. Die Polizei kooperiert außerdem mit Schulen und der Sozialbehörde. Die Ergebnisse könnten sich sehen lassen, meint Shekarabi. Rinkeby sei zwar immer noch ein Utsatt område, ein gefährdetes Gebiet. So bezeichnen die Schweden Gegenden mit hohen Kriminalitätsraten und soziale Problemen. »Aber wir sehen einen positiven Trend.« Es sei gelungen, die offene Drogenszene loszuwerden, die Schießereien seien zurückgegangen, die Bewohner arbeiteten mittlerweile besser mit der Polizei zusammen.
Aber ein Wundermittel für die ganze Stadt gebe es nicht. »Jeder Konflikt ist anders.« Und immer noch sei das Misstrauen gegenüber der Polizei groß. Das hängt auch damit zusammen, dass in Schweden nur 25 Prozent der Mordfälle mit Schusswaffen aufgeklärt werden. Eine Studie der Stadtteilorganisation Folkets Husby zeigt, dass nicht-weiße Bewohner überdurchschnittlich häufig durchsucht werden. Eine weitere Meldung dürfte die Situation nicht gerade entspannt haben: Premierminister Kristersson dachte laut darüber nach, das Militär bei der Gangbekämpfung einzusetzen. Die Sprengstoff-Expertise des Militärs könnte sicherlich hilfreich sein, meint Shekarabi. Aber sollten Soldaten in Rinkeby patrouillieren, wäre das »eine Katastrophe.«
Auch der Stadtteil-Aktivist Pär Plüschke glaubt nicht, dass mehr Repression das Problem lösen wird. Mit seiner Gruppe setzt er auf andere Wege, auf »solidarische Nachbarschaftsstrukturen«. Auch wenn sie mit ihren Erste-Hilfe-Kursen eher Symptome bekämpfen als Ursachen. »In Krisensituation sind wir Menschen unser bester Schutz. Je mehr wir wissen, desto besser können wir uns gegenseitig helfen.« Wie wichtig die Vorbereitung für den Ernstfall ist, wird nur einen Tag nach dem Workshop im alten Heizwerk deutlich.
Hägersten, ein typisches Stockholmer-Mittelschicht-Viertel. Am Abend leuchtet Weihnachtsschmuck in den Fenstern, Eltern ziehen ihre Kinder auf Schlitten hinter sich her. Nur noch eine Blutspur im Schnee erinnert an das, was hier wenige Stunden zuvor geschah. Mit mehreren Schüssen wurde ein junger Mann niedergestreckt. Mitten am Tag. Passanten eilten herbei, leisteten Erste Hilfe. Der Mann überlebte.