Saturday, December 9, 2023
Schuldenbremse: Notlagen-Option: Wie die SPD plötzlich Druck auf die FDP macht
STERN
Schuldenbremse: Notlagen-Option: Wie die SPD plötzlich Druck auf die FDP macht
Artikel von Florian Schillat •
14 Std.
Die SPD will für den Haushalt 2024 die Notlage erklären, also die Schuldenbremse erneut aussetzen. FDP-Chef Christian Lindner ist davon nicht überzeugt. Noch nicht. Also helfen die Sozialdemokraten nach.
Christian Lindner ist zwar nicht vor Ort, aber doch allgegenwärtig. Genauer gesagt: Seine Blockadehaltung im Haushaltsschlamassel. So sieht es jedenfalls die SPD, die an diesem Wochenende ihren Parteitag in Berlin abhält. Zur Selbstvergewisserung, aber auch um die ein oder andere Botschaft zu senden. Eine ist an den FDP-Chef adressiert.
Die Botschaft der Genossen geht ungefähr so: Der Haushalt 2024 muss her, so rasch wie möglich und so üppig ausgestattet wie nötig. Ohne Abstriche. Dafür braucht es die Erklärung einer Notlage. Also neue Schulden.
Lindner geht da nicht mit. Er hält an der Schuldenbremse fest, will die fehlenden Milliarden nach dem Urteil aus Karlsruhe am liebsten zusammenstreichen. Er sei "noch nicht davon überzeugt", dass die Voraussetzungen für einen Notlagenbeschluss 2024 vorliegen würden, sagte er zuletzt.
Moment: "Noch" nicht?
Lindner hält sich eine Hintertür offen, signalisiert, in der Frage beweglich zu sein. Zumindest in der Theorie. Praktisch dürfte sich der FDP-Chef das Fallenlassen einer seiner zwei liberalen Leitlinien – keine Steuererhöhungen, keine neuen Schulden – nur zu einem sehr hohen Preis abtrotzen lassen. Was will der Finanzminister?
Durch den City Cube in Berlin wabert ein Gerücht. Spricht man Genossen darauf an, bestätigen sie die Erzählung hinter vorgehaltener Hand. Demnach wolle der FDP-Chef den Koalitionsbruch provozieren, auf seinen Rauswurf pochen. Warum sonst sollte Lindner beim Bürgergeld kürzen wollen, was die SPD vehement ablehnt (und auch rechtlich kaum zu machen ist)? Oder den Bundeskanzler auflaufen lassen? Olaf Scholz konnte zum Parteitag keine Einigung im Haushaltsstreit präsentieren, die Verabschiedung des Etats 2024 ist in diesem Jahr nicht mehr möglich. Den Grund dafür sehen viele vor allem bei der FDP.
Die Erzählung kommt aus der Parteiführung, sagen manche. Andere verweisen auf die Bundestagsfraktion. So viel darf als gesichert gelten: Der Verdacht wird ohne große Hemmungen gestreut, möglicherweise bewusst – in Medien ist davon schon zu lesen. Das könnte verschiedene Gründe haben.
Einer davon: Sollte Lindner tatsächlich seinen Rauswurf provozieren, wolle man ihm nicht den Gefallen tun, als Märtyrer dazustehen, heißt es. Ganz nach dem Motto: Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Also deckt man den angeblichen Winkelzug auf.
Ein anderer Grund: Sollte Lindner jene Exit-Strategie haben, könne man ihm so die Tür zuschlagen und am Verhandlungstisch halten.
Und nicht zuletzt: Die Geschichte lenkt auch von der eigenen Verantwortung im Haushalts-Chaos ab, immerhin hat der SPD-Kanzler keinen unwesentlichen Anteil an der verfassungswidrigen Schuldentrickserei.
Keine der Ampel-Parteien kann an einem Koalitionsbruch gelegen sein. Aus möglichen Neuwahlen würden – laut aktuellen Umfragen – alle als Verlierer vom Platz gehen. Die FDP würde sogar um den Wiedereinzug in den Bundestag bangen müssen. Daher sollte man der kursierenden Erzählung vom forcierten Ampel-Aus nicht allzu viel Glauben schenken. Die Geschichte soll daher wohl einem Ziel dienen: Den Druck auf Lindner und die FDP zu erhöhen, den Weg für eine Notlagenerklärung doch noch freizumachen.
Ukraine-Hilfe als Brücke für die FDP
Um dem FDP-Chef auch die letzten Bedenken zu nehmen ("noch nicht überzeugt"), versuchen ihm die Genossen auf ihrem Parteitag eine Brücke zu bauen, indem sie ihm bei der Unterstützung für die Ukraine in die Verantwortung nehmen.
Praktisch in jeder Rede der Parteiführung taucht die Ukraine-Hilfe als mögliche Begründung für eine Notlage auf. Auch Bundeskanzler Scholz stimmt am Samstag in den Chor ein, den die Parteivorsitzenden schon tags zuvor angestimmt haben. Der Krieg werde nicht so schnell vorbei sein, wie man sich wünschen würde, sagt Scholz. Und stellt klar: "Wir unterstützen die Ukraine weiter in ihrem Verteidigungskampf." Dafür aber müsse man "Entscheidungen treffen, die uns in der Lage halten, das tun zu können." Er sprach von einer großen finanziellen Kraftanstrengung, nicht nur in diesem Jahr, sondern auch im "nächsten und übernächsten". Es war ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Der Schritt, die Schuldenbremse wegen des Ukraine-Kriegs zu umgehen, wäre wohl nicht nur mit dem Richterspruch aus Karlsruhe vereinbar. Er wäre auch schwer zu kritisieren, nicht zuletzt für die FDP. Die SPD versucht die Liberalen offenkundig dort zu packen, wo sich die Liberalen immer entschlossen gezeigt haben: bei der finanziellen und militärischen Hilfe für die Ukraine. Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), einer der lautstärksten Unterstützerinnen, hatte zuletzt davor gewarnt, nach dem Karlsruhe-Urteil an den Ausgaben für das von Russland angegriffene Land zu kürzen.
Allein die bisherigen Zusagen an die Ukraine für das nächste Jahr belaufen sich auf acht Milliarden Euro. Hinzu kämen Kosten für die ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland. Würde dieses Geld jenseits der Schuldenbremse über Schulden aufgenommen, wäre zumindest ein bedeutender Teil der 17 Milliarden Euro aufgebracht, die Finanzminister Lindner nach eigenen Angaben für den Etat 2024 fehlen. Wollte man das Geld stattdessen aus dem Kernhaushalt stemmen – beispielsweise, indem bei Sozialleistungen gekürzt wird –, könnte die Hilfsbereitschaft der Wählerinnen und Wähler für die Ukraine kippen.
Kanzler Scholz hat in seiner Parteitagsrede deutlich gemacht, dass es "keinen Abbau des Sozialstaats" geben werde. Das ist zwar keine grundsätzliche Absage an Einsparungen, aber doch das klare Signal, dass hier nicht viel zu holen sein wird. Auch das ein Wink an seinen Finanzminister.
Der Druck auf die Koalitionsspitzen wächst, zumindest eine politische Einigung in diesem Jahr zu erzielen. Niemand dürfte ein Interesse daran haben, den Bürgerinnen und Bürgern die ungelösten Ampel-Differenzen zur ausführlichen Exegese unter den Weihnachtsbaum zu legen, schon gar nicht den Zoff ins nächste Jahr zu verschleppen.
Deswegen beschleunigt die SPD den Prozess, mit sanftem Druck. In einem Initiativantrag des Parteivorstands, der am Samstag beschlossen wurde, wird die erneute Aussetzung der Schuldenbremse gefordert. Mit Verweis auf die zusätzlichen Belastungen durch den Ukraine-Krieg. FDP-Chef Lindner haben sie noch nicht so weit. Noch nicht.