Sunday, December 10, 2023
Möglicher EU-Beitritt Kiews: "Putin denkt, dass es nie passieren wird"
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Möglicher EU-Beitritt Kiews: "Putin denkt, dass es nie passieren wird"
Artikel von Lea Verstl •
22 Std.
Die Entscheidung, ob die EU Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine starten soll, rückt näher. Expertin Marie Dumoulin erklärt, warum neben der EU auch die Ukraine bei einem zu schnellen Beitritt Probleme bekommen kann. Und warum Russlands Präsident Putin gar nicht daran denkt, dass Kiew Mitglied werden könnte.
Putin rechne fest damit, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu gewinnen, sagt Marie Dumoulin.
Marie Dumoulin: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Putin irgendetwas über den EU-Beitritt der Ukraine und die möglichen Folgen für Russland gesagt hätte. Das mag daran liegen, dass er denkt, dass es nie passieren wird, weil er die Ukraine als einen gescheiterten Staat ansieht. Das heißt aber nicht, dass er sich keine Sorgen über die Auswirkungen macht, die der EU-Beitritt auf den Einfluss Russlands auf die Ukraine, auf die Definition der russischen Identität und auf die Art des politischen Modells, das Russland zu etablieren versucht, haben wird. Der Beitritt der Ukraine zur EU würde Putins Vorstellung von einer großen slawischen Nation, die sich aus Russen, Weißrussen und Ukrainern zusammensetzt, zerstören. Die Ukraine wäre dann noch deutlicher als eine Demokratie zu erkennen, die Teil des westlichen Werte- und Normensystems ist. Dies ist mit Putins politischem Projekt nicht vereinbar. Ein EU-Beitritt würde die Ukraine vollständig aus dem Wirkungsbereich Russlands herauslösen. Sie unterliegt schon jetzt nicht mehr dem Einfluss Russlands. Putin kann jedoch hoffen, diesen Einfluss im Laufe der Zeit wiederherstellen zu können, wenn die Ukraine den Krieg verliert.
Er glaubt, dass er den Krieg gewinnen wird. Wenn Russland den Krieg gewinnt, wird die Ukraine, oder das, was von der Ukraine übrig bleibt, ein gescheiterter Staat sein. Die Aussichten, dass dieser gescheiterte Staat jemals der EU beitritt, werden gering sein. Das ist Putins Logik.
Ich glaube nicht, dass diese Frage jetzt auf dem Tisch liegt. Denn die Aufnahme von Beitrittsgesprächen ist der Beginn eines Prozesses, der sehr langwierig sein kann. Wir sehen das bei den Ländern des westlichen Balkans. Die Ukrainer hoffen, dass der Prozess kürzer sein wird. Die meisten EU-Mitgliedstaaten sind sich jedoch darüber im Klaren, dass die Erfüllung der Beitrittskriterien, die für eine Annäherung des Landes an den Rest der Europäischen Union erforderlich sind, Zeit in Anspruch nehmen wird. Wenn die Ukraine bereit für den Beitritt ist, hoffen viele, dass der Krieg vorbei ist.
Orbáns Erpressung hat Aussicht auf Erfolg
Berichten zufolge gibt es nicht nur in den USA, sondern auch in anderen westlichen Ländern politische Kräfte, die darauf bestehen, dass die Ukraine Friedensverhandlungen mit Russland führen sollte. Könnte die Aussicht auf einen EU-Beitritt Kiew dazu bewegen, bei möglichen Friedensverhandlungen mit Russland Gebiete aufzugeben?
Das glaube ich nicht. Die meisten Menschen in der Ukraine sind der Meinung, dass ein Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen mit Russland nur eine Pause wäre, die Russland nutzen würde, um seine Kampfkraft wiederherzustellen und in ein paar Jahren einen neuen Krieg zu beginnen. Der zweite Punkt ist, dass die Russen in den besetzten Gebieten, die seit Februar 2022 befreit sind, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Die meisten Ukrainer denken: Wenn wir die Gebiete unter russischer Besatzung lassen, werden die Menschen dort nicht überleben, also müssen wir unser Volk vor der russischen Besatzung retten. Das macht territoriale Zugeständnisse unwahrscheinlich. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob die internationale Gemeinschaft ein Interesse daran hat, die Idee zu akzeptieren, dass die Anwendung von Gewalt zu einer Belohnung in Form von Territorium führen kann.
Sowohl frühere EU-Erweiterungen als auch die EU als solche sind geopolitische Projekte. Die Tatsache, dass die Erweiterung und die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine eine geopolitische Dimension haben, ist kein Sonderfall. Es stimmt, dass es sich um einen besonderen Kontext handelt, weil sich die Ukraine im Krieg befindet und der Krieg somit auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt ist. Aber auch in den 1990er Jahren gab es in Europa Krieg, und zwar in den Ländern des westlichen Balkans. Die Aussicht auf einen EU-Beitritt dieser Länder hat auch eine geopolitische Dimension, denn sie soll ein stabilisierender Faktor sein. Im Falle der Ukraine ist das Gefühl der Dringlichkeit und der Solidarität aufgrund der Tragödie, die sie durchmacht, größer. Dennoch glaube ich nicht, dass irgendjemand bereit ist, die Bedingungen für den Beitritt der Ukraine zu lockern. Auch weil es für die Ukraine selbst destruktiv wäre, der EU beizutreten, bevor sie dazu bereit ist.
EU-Kommission empfiehlt Beitrittsverhandlungen mit Kiew
Welche Nachteile drohen der Ukraine, wenn sie zu früh beitritt?
Es stellt sich die Frage, ob die ukrainische Wirtschaft in der Lage wäre, auf dem europäischen Markt zu konkurrieren. Die Erweiterung kann Investitionen in das Land bringen, vorausgesetzt, es gibt Sicherheit. Andererseits müssen die ukrainischen Unternehmen ihren Rückstand aufholen, um auf dem europäischen Markt wettbewerbsfähig zu bleiben. Es stellt sich auch die Frage, ob die Menschen in der Ukraine bleiben würden, wenn sie als EU-Bürger die Möglichkeit hätten, in andere EU-Mitgliedstaaten zu ziehen. Einige Länder haben nach dem EU-Beitritt eine riesige Auswanderungswelle erlebt - man denke nur an Bulgarien, das von einer solchen Welle betroffen war.
Es gab sieben Empfehlungen der EU-Kommission, wonach die Ukraine unter anderem aufgefordert ist, Korruption und Oligarchisierung zu bekämpfen, die Justiz und das Verfassungsgericht zu reformieren sowie Medien- und Minderheitenrechte zu stärken. Dies sind die vorrangigen Bereiche, die die EU sehr genau unter die Lupe nehmen wird. Die Ukraine hat einige gute Schritte unternommen. Aber es gibt noch viel zu tun. Wenn Beitrittsverhandlungen starten, kommt noch einmal ein gewaltiger Berg Arbeit auf die Ukraine zu, unter anderem um die ukrainische Gesetzgebung an die EU-Normen anzupassen.
Ex-EU-Kommissionschef Juncker nur für Teil-Beitritt der Ukraine
Auch die EU wird sich vor dem Beitritt der Ukraine verändern müssen. In der Haushaltspolitik wird sie sich neu orientieren müssen, zum Beispiel bei der Vergabe von Agrarsubventionen. Das zeigen die wiederholten Proteste polnischer Landwirte an der Grenze zur Ukraine, die durch den Verfall der Getreidepreise eine Konkurrenz durch das Nachbarland befürchten. Welche Lösungen gibt es dafür?
Die Erweiterung wird eine finanzielle Dimension haben. Es wird Geld benötigt werden, um die EU-Politik in den künftigen neuen Mitgliedstaaten umzusetzen. Mit dieser Diskussion sollten die EU-Mitgliedstaaten jetzt beginnen. Die Ukraine wird Geld für ihren Wiederaufbau brauchen. Im Moment braucht sie Geld, um als Staat weiter existieren zu können. In einigen spezifischen Politikbereichen möchten die derzeitigen Mitgliedsstaaten vielleicht ihre wirtschaftlichen Interessen schützen. Bei den vorangegangenen EU-Erweiterungswellen gab es Schutzklauseln, die Zeit für den Übergang ließen. Ein EU-Beitritt der Ukraine wäre nichts Besonderes, abgesehen von der Größe des Landes und seinen Bedürfnissen.
Das ist schwer zu sagen, denn wir wissen nicht, wann und wie der Krieg enden wird. Wir wissen auch nicht, wie er das politische Denken der Ukrainer beeinflussen wird. Im Moment kämpfen die Ukrainer um die Souveränität ihres Landes. Wenn ihr Land der EU beitritt, bedeutet dies, dass sie in einigen Bereichen ihre Souveränität aufgeben müssen. Das könnte also zu einem Widerspruch führen. Ich weiß nicht, wie sie mit diesem Widerspruch umgehen werden, denn ich weiß nicht, wie sie die Welt und sich selbst sehen werden, wenn der Krieg vorbei ist.
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Bislang wollen die Ukrainer offenbar unbedingt Teil der EU werden. Bereits 2014 protestierten sie auf dem Maidan, weil der damals von Putin unterstützte Ministerpräsident Viktor Janukowitsch seine Unterschrift unter dem Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zurückzog. Könnten sie diese Begeisterung für die EU verlieren?
Ich glaube nicht, dass es im Moment irgendwelche Zweifel am EU-Beitritt gibt. Die Ukrainer haben eine fast romantische Sehnsucht nach einem EU-Beitritt. Die EU hat die Ukraine seit dem Beginn der russischen Invasion unterstützt. Aber es hat viel Zeit und Mühe gekostet, bis die ukrainische Regierung diese Unterstützung erhalten hat. Je länger der Krieg andauert, desto mehr könnten einige Menschen in der Ukraine das Gefühl haben, dass sie nicht genug Unterstützung erhalten. Und diese romantische Beziehung könnte sich allmählich in eine viel zynischere Beziehung verwandeln. So weit ist es noch nicht. Die Ukrainer sind sehr dankbar für all die Hilfe, die sie erhalten. Aber es gibt ein wachsendes Gefühl der Frustration über die Energie und den Aufwand, der nötig ist, um die Unterstützung zu bekommen.