Friday, December 1, 2023
Analyse von Ulrich Reitz - Rot-Grün schnitzt sich neues Einbürgerungsrecht, aber belegt zentrale Behauptung nicht
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Analyse von Ulrich Reitz - Rot-Grün schnitzt sich neues Einbürgerungsrecht, aber belegt zentrale Behauptung nicht
Artikel von Von FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz •
1 Std.
Nancy Faeser (SPD), Innenministerin, spricht vor dem deutschen Bundestag
Wer ist ein Deutscher? Und wer nicht? Nancy Faeser freut sich über das wichtigste innenpolitische Gesetz der Ampelregierung. Die Union fürchtet einen Ausverkauf der deutschen Staatsbürgerschaft. Sie wittert einen neuen „Pull-Faktor“.
Nancy Faeser ist voll des Lobes. Für sich selbst. Ihre Ampel definiert gerade neu, was das ist, ein Deutscher. Sie reguliert damit das staatliche Selbstverständnis, das jeden Einzelnen betrifft: Wer gehört zur Gemeinschaft der Deutschen, wer nicht? Es ist ein tiefer Eingriff, wie immer man dazu steht.
Und Faeser sagt, zu was „ihr“ Staatsangehörigkeitsgesetz führt: Es „macht Deutschland stärker, moderner und international wettbewerbsfähiger“. Es sei „ein Pfund, mit dem wir gerade bei Hochqualifizierten wuchern können“. Man merkt Faeser an: Sie ist voller Freude über ihr Gesetz, das wichtigste innenpolitische Vorhaben der Ampelregierung – ein Aushängeschild für die „Fortschrittskoalition“.
CDU spricht von „Staatsangehörigkeitsentwertungsgesetz“
Das Gesetz wird Deutschland verändern, möglicherweise auch tiefgreifend. Über das Selbstbestimmungsrecht hat die Ampel neu festgelegt, was eine Frau sein soll und was ein Mann. Über das Selbstbestimmungsrecht legt sie nun fest, was ein Deutscher sein soll und was nicht.
Es ist jedenfalls genau die Art von gesellschaftspolitischem Wandel, von Identitätspolitik, den die Union rundheraus ablehnt. Auch in der Bevölkerung ist die Skepsis groß gegenüber diesem Gesetz, besonders der „Turbo“-Einbürgerung, die für gut Integrierte nun sogar schon nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland möglich sein soll.
Für die CDU handelt es sich daher nicht um ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz, sondern um ein „Staatsangehörigkeitsentwertungsgesetz“.
Das „spaltet unser Land“, sagt Innenpolitiker Alexander Throm. Und helfe der AfD. Die deutsche Staatsangehörigkeit werde entwertet, sagt CDU-Mann Philipp Amthor. Angesichts der Pro-Hamas-Demonstrationen in Deutschland, der Rufe nach einem islamistischen Kalifat, des „grassierenden importierten Antisemitismus“ wirke das Ampel-Gesetz „wie aus der Zeit gefallen“.
Entsteht ein neuer Pull-Faktor?
Es begrenze nicht Einwanderung, was geboten sei, sondern stelle einen neuen, „gefährlichen Pull-Faktor“ für unerwünschte Einwanderung dar, sagt CSU-Mann Alexander Hoffmann. In Wahrheit gehe es der Ampel nicht um Integration, sondern um die Manipulation von Wahlen: „Sie schnitzen sich ein Wahlrecht, das ihnen nutzt.“
Angesichts der im Berliner Hintergrund laufenden Debatte um ein vorzeitiges Ende der Ampelkoalition wegen der Folgen des Karlsruher Haushaltsurteils, über einen Einstieg der Union in die Regierung, über Neuwahlen: Wie sollten in der innenpolitisch entscheidenden Frage Union und SPD überhaupt zusammenarbeiten, wenn ihre Vorstellungen derart weit auseinanderliegen? Aber zurück zum Gesetz, das für eine große Bevölkerungsgruppe eine neue Wirklichkeit schaffen will.
Der Doppelpass soll zur Regel werden
In Deutschland leben laut Innenministerin Faeser mehr als zehn Millionen Menschen, die keinen deutschen Pass haben. Fünf Millionen von ihnen sind schon länger als zehn Jahre im Land. Und viele, Frauen vor allem, können auch nach 40-, 50 Jahren in Deutschland immer noch kein Deutsch. Es ist die Gastarbeiter-Generation, die ab den 1960er-Jahren dem Ruf deutscher Unternehmen folgte und nach Deutschland kam, um irgendwann wieder zu gehen. Und die dann doch blieb.
Sie sollen jetzt einen deutschen Pass bekommen können – ohne ihren, meistens türkischen Pass, abgeben zu müssen. Der Doppelpass soll zur Regel werden. Faeser nennt das „die Krönung einer gelungenen Integration“. Die Grüne Filiz Polat, selbst Kind erfolgreich eingewanderter Türken, ist es „die Anerkennung von Lebensleistung“ – auch ihrer eigenen Eltern.
Die, das sagt die Union, doch habe frei entscheiden können, deutsch zu werden. Sie hätte sich nur für die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden müssen – wollte dies aber offenbar nicht, weil sie dafür ihre angestammte Staatsangehörigkeit hätten abgeben müssen. Die Union interpretiert dies als mangelnde Loyalität dem deutschen Staat gegenüber. „Loyalität kann man nicht erzwingen, indem man einen Teil seiner Identität aufgibt“, sagt Gülistan Yüksel von der SPD. Yüksel ist selbst Gastarbeiterkind, kam mit acht Jahren nach Deutschland – und wurde im Alter von 30 Jahren eingebürgert.
Der Bundestag erzählt eine asymmetrische Integrationsgeschichte
Die Migrations-Erzählungen der Unionspolitiker fallen ganz anders aus als die von Grünen und Sozialdemokraten. Die Union erzählt eine Geschichte der Gefährdung. „Sie tragen die Politik anderer Länder in unser Land hinein“, sagt Throm. Und: „Sie leben in unserem Land, wählen aber die Unfreiheit in ihrem Herkunftsland.“
Gemeint sind offenkundig Türken, die Recep Tayyip Erdogans Politik bei den Wahlen mehrheitlich stützten. Und die durch Migration importierten Konflikte lassen sich am Beispiel des Hamas-Israel-Kriegs studieren – und der Pro-Hamas-Demos in deutschen Städten wie Essen, wo im Stadtnorden Migranten bereits in der Mehrheit sind.
Der Bundestag selbst erzählt eine asymmetrische Integrationsgeschichte. Auf der linken Seite des Plenums am Mikrophon: Filiz Polat, Gökay Akbulut, Lamya Kaddor, Gülistan Yüksel, Canan Bayram, Hakan Demir. Auf den Rechten heißen die Redner mit Vornamen Alexander, Gottfried und Philipp.
Und wo steht eigentlich die FDP?
Es gibt da ein eindrückliches Bild, das der Soziologe Aladin El-Mafaalani aus Datteln gemalt hat: Die ersten Einwanderer hätten nicht am Tisch der Deutschen gesessen. Jetzt aber säßen die Einwanderer am Tisch mit den Deutschen. Und die Folge: Die Konflikte nähmen nicht ab, sondern zu.
Weil die, die sich einen Platz am Tisch erkämpft hätten, nun selbstbewusst ihre Forderungen anmeldeten – als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Mafaalani hat dies, ganz der Professor, „Integrationsparadox“ genannt. Nun ist dieses Integrationsparadox auch im Bundestag angekommen – jedenfalls auf dessen linker Seite.
Und wo steht eigentlich die FDP, die immer mehr leidet an der Ampel? Sie versucht sich linker Euphorie wie rechter Furcht zu entziehen – und argumentiert staatsmännisch-pragmatisch. Justizminister Marco Buschmann verweist auf die Verschärfungen, die das Staatsangehörigkeitsgesetz eben auch bringt. Wer etwa von Sozialtransfers lebt, kann kein Deutscher werden. Wer ein Kalifat propagiert, kann kein Deutscher werden. Buschmann schafft es, das Prinzip in nur einen Satz zu verpacken: „Wir wollen attraktiver werden für Menschen, die von ihrer eigenen Arbeit leben und unsere Gesetze achten.“
Für zentrale Faeser-Behauptung gibt es keinen Beleg
Für eine zentrale Behauptung von Nancy Faeser und der Grünen gibt es keinen Beleg – dass die schnellere Einbürgerung Deutschland attraktiver macht für die Einwanderung ausländischer Fachkräfte. „Ohne echte Zugehörigkeit werden diese Arbeitskräfte schnell wieder gehen“, sagt Lamya Kaddor. Die Grüne sagt, die Global-Mobilen hätten sich an das Prinzip gewöhnt: „Mehrere Heimaten zu haben ist normal.“
Die Union sagt, für internationale Fachkräfte seien ganz andere Dinge wichtig. Sofort die Familie mitnehmen zu können nach Deutschland. Eine Wohnung bekommen zu können. In ein digitalisiertes Land zu kommen. Mit niedrigen Steuern.
Die deutsche Staatsbürgerschaft, sagt Throm, kommt auf der Liste der Wünsche potentieller Einwanderer „gar nicht vor“.