Wednesday, September 20, 2023

Visa-Affäre: Polens Regierung stolpert über ihre eigene Migrationspolitik

Handelsblatt Visa-Affäre: Polens Regierung stolpert über ihre eigene Migrationspolitik Artikel von Mijnssen, Ivo • 11 Std. An der EU-Außengrenze zum Nachbarland Belarus hat Polen einen 5,5 Meter hohen Metallzaun mit Bewegungsmeldern und Nachtsichtkameras errichtet. Die polnische Regierungspartei PiS gibt sich migrationsfeindlich und führt in den Wahlumfragen. Doch offenbar hat sie selbst Visa verschleudert. Die Gruppe von Indern gab sich als Filmteam aus Bollywood aus. Doch die meisten hatten weder je eine Kamera noch ein Skript in der Hand gehalten. Sie wollten auch nicht nach Polen, um dort den Streifen „Asati“ zu drehen. Stattdessen, so die Recherche des Portals Onet, zahlten sie einem Mitarbeiter des stellvertretenden Außenministers Piotr Wawrzyk mehrere zehntausend Euro, um ein Visum für den Schengenraum zu erhalten und damit über Mexiko in die USA zu reisen. Doch den Amerikanern fielen die falschen Filmemacher auf. Wie sich herausstellte, hatte Wawrzyk im Herbst 2022 persönlich Druck auf Konsulatsmitarbeiter ausgeübt, die Visa rasch auszustellen. Letzte Woche musste der Politiker der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zurücktreten, er soll sich nach einem Suizidversuch in einer Klinik befinden. Sieben Personen wurden angeklagt, drei in Untersuchungshaft genommen. Nur ein „Affärchen“? „Warzyks Filmer“ sind wohl nur die Spitze des Eisbergs in einem Skandal um gekaufte Visa, der die rechte Regierung knapp einen Monat vor der Parlamentswahl in Schwierigkeiten bringt. Die PiS profiliert sich als Garantin von Polens Sicherheit, sie baut an der Grenze zu Weißrussland und Kaliningrad Zäune und Mauern gegen die illegale Migration und die Bedrohung durch Moskau. Doch nun muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, mit einem korrupten System der Visavergabe einen unkontrollierten Zustrom zugelassen zu haben. In ihrem Umgang mit dem Thema wirkt die Regierung unentschlossen. So erklärte Jaroslaw Kaczynski Ende letzter Woche zwar: „Es gibt keine Affäre, es gibt nicht einmal ein Affärchen“ und wälzte die Schuld auf „die kriminelle Idee einiger Leute“ ab, die kaum etwas mit seiner Partei zu tun hätten. Kurz davor hatte das Zentrale Antikorruptionsbüro (CBA) aber das Außenministerium durchsucht. Das, so der Geheimdienst-Koordinator Stanislaw Zaryn, beweise, wie gut die Aufarbeitung funktioniere. Er informierte darüber, dass das CBA bei einigen hundert Visumsanträgen aus Asien, Indien und den Golfstaaten Unregelmäßigkeiten aufgedeckt habe. Die meisten seien abgelehnt worden, und die Korruptionsjäger ermittelten seit eineinhalb Jahren. Dies sei auf eigenen Antrieb geschehen und nicht nach einem Hinweis ausländischer Behörden. Die PiS kann aber nicht erklären, weshalb sie erst jetzt durchgreift. Die Unregelmäßigkeiten in Indien waren mindestens seit Anfang des Jahres bekannt, wie etwa ein Briefwechsel zwischen dem Außenminister Zbigniew Rau und der Arbeitgebervereinigung zeigt. Die Zeitung „Rzeczpospolita“ hält Rau für nicht länger tragbar, da er entweder lange Zeit nicht reagiert oder keine Ahnung gehabt habe, was in seinem Ministerium passierte. Die Opposition spricht von Zahlen in ganz anderen Größenordnungen: 250.000 Visa seien in 30 Monaten über das korrupte System nach Asien und Afrika vergeben worden, sagte deren Anführer Donald Tusk. Dazu lieferte seine Partei Bürgerplattform (PO) ein reißerisches Video, in dem Elendszüge von Migranten an Europas Außengrenzen mit Bildern lächelnder PiS-Politiker zusammengeschnitten werden. „Sie haben sie reingelassen, nach der Wahl werden wir sehen, ob sie auch daran verdient haben“, so die Botschaft am Ende. Angesichts dessen, dass die PiS die Zahlen wohl herunterspielt und die Opposition sie aus dem entgegengesetzten politischen Kalkül möglichst hoch ansetzt, bleiben viele Fragen offen. Heuchlerisch sind beide, denn rechte wie linke Regierungen verfolgten im letzten Jahrzehnt eine äußerst liberale Politik bei der Arbeitsmigration.