Thursday, September 28, 2023
FOCUS online exklusiv - Akten enthüllen abgekartetes Spiel: Flüchtlingsretter kooperieren mit Schleppern
FOCUS online exklusiv - Akten enthüllen abgekartetes Spiel: Flüchtlingsretter kooperieren mit Schleppern
Artikel von Von FOCUS-online-Reporter Axel Spilcker •
3 Std.
Hilfsorganisationen versuchen, Migranten auf dem Mittelmeer aus akuten Gefahrensituationen zu retten. Sagen sie zumindest. Recherchen haben Hinweise darauf gegeben, dass einige NGOs mit Menschenhändlern kooperieren und ihre eigenen Tricks haben, die Zusammenarbeit zu verbergen.
Die Sonne tauchte das Mittelmeer nahe der libyschen Küste in ein sattes Blau. Seenotretter des Hilfsschiffs „Iuventa“ brausten in ihrem Rhib (Festrumpfschlauchboot) heran, um Dutzende Flüchtlinge in einem vollbesetzten Schlauchboot abzuschleppen. Ein Schlepperboot mit zwei Yamaha-Motoren im Heck begleitete die Aktion. Die drei Schleuser unterhielten sich mit den Helfern so als seien sie gute alte Bekannte.
Plaudereien zwischen Schleppern und Seenotrettern
Gemeinsam ging es zur „Iuventa“, einem Schiff der deutschen Hilfsorganisation „Jugend Rettet“. Dort plauderten die Schlepper noch ein wenig mit der Crew, während die Migranten hoch auf das deutsche Schiff kletterten. Eine Szene, wie es sie ausweislich italienischer Ermittlungen oft gab: Menschenhändler bringen die Flüchtlinge nur wenige Kilometer weit vor der nordafrikanischen Küste hinaus zu Treffpunkten mit den Schiffen internationaler Hilfsorganisationen. Dort werden sie aufgenommen und nach Italien gebracht. Von Seenotrettung keine Spur. So zumindest legt es der Ermittlungsbericht der italienischen Strafverfolger in der westsizilianischen Stadt Trapani nahe.
Kooperation mit Menschenhändlern
Der gut 650-seitige Report aus dem Jahr 2020, der FOCUS online vorliegt, zeigt auch anhand von Bildern und Videos, wie eng Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie „Jugend Rettet“, „Save the children“ oder „Ärzte ohne Grenzen“ mit libyschen Menschenhändlern kooperiert haben sollen.
Im vergangenen Jahr hat die Staatsanwaltschaft Trapani 21 Beschuldigte wegen der Beihilfe zur illegalen Einreise von Migranten nach Italien angeklagt. Die Organisationen weisen sämtliche Anschuldigungen zurück.
Die Tatvorwürfe liegen sechs bis sieben Jahre zurück. Gerade aus Deutschland hagelte es Proteste gegen die Strafverfolgung. Die Berliner NGO „Jugend Rettet“ wertete die Ermittlungen als erneuten Versuch, die Flüchtlingsretter im Mittelmeer zu kriminalisieren. Kritiker hingegen werfen den Hilfswerken vor, mit ihren Aktionen den Flüchtlingszustrom in die EU zu fördern. Die Ermittler in Sizilien sprechen von einem „Pull-Faktor“.
Bergungsaktionen erleichtern Schleusergeschäft
Die sizilianischen Strafverfolger gehen davon aus, dass die systematischen Bergungsaktionen der NGOs nahe an der libyschen Küste das Schleusergeschäft erleichtern.
Allein in diesem Jahr sind bisher auf der zentralen Seeroute von Nordafrika nach Italien mehr als 2300 Menschen ums Leben gekommen. Ein großer Teil davon startet an Libyens Küste in hoffnungslos überfüllten Booten. Ausgebeutet durch skrupellose Schlepper-Banden riskieren die Zuwanderer aus arabischen, asiatischen oder afrikanischen Staaten ihr Leben, um in den gelobten Westen zu gelangen.
Inzwischen spitzt sich die Lage zu. Italien meldet für 2023 bisher knapp 130.000 Zuwanderer, doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Die Bilder der völlig überfüllten Mittelmeerinsel Lampedusa belegen die Flüchtlings-Misere.
Mit der ultrarechten Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat die italienische Regierung den Kurs gegen die Seenotrettungs-Organisationen nochmals verschärft.
Einspruch von NGO vor Gericht gescheitert
So verwundert es nicht, dass etwa die Anwälte der Berliner NGO „Jugend Rettet“ mit ihren Einsprüchen gegen den Strafprozess vor Gericht im Juni 2023 scheiterten. Deren Anwältin Francesca Cancellaro bedauerte den Beschluss: „Heute vor Gericht hatte der Grenzschutz Vorrang vor dem Schutz der Grundrechte. Wir wollten, dass die Obersten Gerichte ein für alle Mal über das Gleichgewicht zwischen Grenzschutz und Menschenschutz entscheiden. Doch der Richter verneinte … alle diese Möglichkeiten.“
Die Kollegen von „Save the children“ haben bereits zu Ermittlungsbeginn ihre Aktivitäten auf dem Mittelmeer mit ihrem Schiff Vos Hestia beendet.
Schließlich wiegen die Vorwürfe der italienischen Ermittler schwer und sind detailliert belegt. Laut dem Ermittlungsbericht soll die englische Organisation „Save the children“ mit ihrem Schiff Vos Hestia, die internationale NGO „Ärzte ohne Grenzen“ mit der Vos Prudence sowie „Jugend Rettet“ mit der Iuventa „ein komplettes System zur Organisation, Erleichterung und Unterstützung der illegalen Einwanderung auf der Grundlage von Schiffen entworfen“ haben.
Nachforschungen lassen oft keine Fälle von Schiffsbrüchigkeit erkennen
Gemeinsam mit dem renommierten Schweizer Reporter Kurt Pelda hat sich FOCUS online auf Spurensuche in dem Fall begeben. Dabei förderten vor allen Dingen die bei einer Razzia Ende 2017 sichergestellten Bilder und Videodateien, abgehörte Gespräche sowie der Einsatz eines verdeckten Ermittlers erhebliche Verdachtsmomente zutage. Etliche Fotos ihrer Rettungsaktionen veröffentlichten die Hilfswerke im Internet oder über die Medien. In erster Linie verfolgte man das Ziel, neue Spenden zu generieren.
Mit den dramatischen Bildern, so der Vorwurf, sollte der Öffentlichkeit ein positives Bild der Hilfsaktionen vermittelt werden. Die Retter durften sich als Helden feiern lassen, wenn sie Menschen vor dem Ertrinken bewahrten.
Bei Schiffbrüchigen können sich die Hilfswerke auf das Seerecht berufen und die Menschen in einen sicheren Hafen bringen, meist von der libyschen Küste ins rund 600 Kilometer entfernte Italien. Davon machten sie auch regen Gebrauch. Obschon die Nachforschungen in Trapani häufig keine Fälle von Schiffbrüchigen entdecken konnten.
Entscheidende Bilder werden unter Verschluss gehalten
Die Ermittler stießen auf Bildmaterial, das eine ganz andere Interpretation zahlreicher Bergungsoperationen zulässt. So hielten die Hilfsorganisationen laut Polizei jene Fotos und Video unter Verschluss, die Schleuser zeigten, wenn sie Migranten zu den Rettungsbooten brachten.
Eine solche Aktion hat die Besatzung des Schiffs Vos Hestia der britischen Organisation Save the Children am 26. Juni 2017 durchgeführt. Ein vollbesetztes Schlauchboot mit Migranten traf auf die Retter nahe der Küste Libyens. Mit zwei 150-PS starken Außenbordern rasten drei Schlepper auf die Helfer zu. Gestenreich erklärten die Menschenhändler, dass noch weitere Flüchtlingsboote auf dem Weg zur „Übernahme“ seien.
Schlepper Abdulsalem Suleiman Dabbashu
Ein verdeckter Ermittler fotografierte die Zusammenkunft. Die Aufnahmen zeigten unter anderem Abdulsalem Suleiman Dabbashi. Er gehörte seinerzeit zu einem mächtigen Schleuser-Clan in der westlibyschen Hafenstadt Sabrata.
Abgesprochene Übergabe von Migranten
Mit Hilfe der Einnahmen aus dem Schleppergeschäft hatte das Familienoberhaupt Ahmed Dabbashi eine eigene Miliz finanziert, die in den Kriegswirren nach dem Ende der Gaddafi-Diktatur in dem nordafrikanischen Land mitmischte. Clanchef Dabbashi steht wegen seiner Verbrechen auf der EU-Sanktionsliste. Das Familiensyndikat kontrollierte zahlreiche sichere Häuser sowie den Strand von Sheherazade, so die Erkenntnisse der sizilianischen Polizei. Dort seien die Migranten zusammengepfercht worden, bevor sie über See nach Italien aufbrachen.
„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die oben beschriebenen Ereignisse deutlich machen, wie eine tatsächliche abgesprochene Übergabe von Migranten durch Menschenhändler an Vos Hestia stattfand“, konstatieren die Strafverfolger. „Insbesondere wird deutlich, wie sich die Schlepper dem besagten Schiff näherten und nebenbei direkten Kontakt mit dem Bordpersonal aufnahmen, um die baldige Ankunft zahlreicher Einheiten mit Migranten an Bord anzukündigen.“
Bereitwillig habe der Kommandant des Hilfsschiffes auf die Übergabe der Flüchtlinge gewartet. Somit habe er die Menschenhändler und Schmuggler begünstigt, lautet das Fazit. Zumal der Kapitän das Schlepperboot gegenüber der staatlichen Seenotrettungsstelle (IRMCC) der Küstenwache in Rom per Funkspruch als Patrouille der libyschen Küstenwache ausgab.
Verschiedene Wege, einen Treffpunkt auf dem Meer zu finden
Wie aber fanden sich Schleuser und Flüchtlingsretter auf dem Meer? Offenbar gab es etliche Wege. Zum einen kreuzten Hilfsschiffe wie die Iuventa von Jugend Rettet nahe an der libyschen Küste. Die Menschenhändler orteten sie etwa über die Navigationssignale (AIS), die Schiffe über 20 Meter aussenden, um ihre Position anzugeben. Anschließend starteten die mit Flüchtlingen vollbesetzten leichten Schlepperboote, fuhren einige Seemeilen hinaus und „übergaben“ die „Menschenware“ den Hilfsschiffen. Von einem Seenotrettungsfall, so die Ermittler, konnte hier keine Rede sein.
Eine andere Masche: Einer der Menschenhändler rief mit einem Satellitentelefon das Rettungszentrum der italienischen Küstenwache in Rom an und gab sich als Migrant auf See aus. Er berichtete von 24 Personen, die in der libyschen Hafenstadt Zawyia gestartet seien. Außerdem gab er die aktuelle Position bekannt und fügte an, dass die Motoren der Boote ausgefallen seien. Offenbar, so der Anrufer, befinde man sich in höchster Not.
Die Behörde in Rom kontaktierte daraufhin die Vos Hestia von Save the children und schickte das Schiff zur besagten Position. Mit derselben Satellitennummer hatten die Schlepper allerdings schon in drei früheren Fällen Rom angerufen und schiffbrüchige Migranten gemeldet.
Schleuser hielt Migranten mit Gewalt in Schach
Das ist aber längst nicht alles. Ende Juni 2017 nahm die Vos Hestia zahlreiche junge Männer vom Horn von Afrika auf, die auf einem blauen Holzkahn unterwegs waren. Aus dem Pulk stach ein weißer Mann heraus, der die Afrikaner mit einem Gürtel, einem Wasserschlauch, mitunter aber auch mit den Fäusten traktierte. Und dies direkt vor den Augen und Kameras der Retter.
Der Schlepper im italienischen Hafen
Der Mann, für alle klar als Schlepper erkennbar, wollte mit den Schlägen dafür sorgen, dass die Migranten sitzen bleiben und geordnet auf die Rettungsboote übersetzten. Damit sollte das Kentern des überfüllten Holzboots verhindert werden.
Kurz darauf mischte sich der Schleuser selbst unter die Migranten, bestieg die Vos Hestia und wurde im Hafen von Reggio Calabria zusammen mit mehr als 1000 Migranten von Bord gelassen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Kapitän der Vos Hestia nun vor, dass er nicht nur gewusst habe, um wen es sich da handelte, sondern dass er den Behörden die Anwesenheit eines kriminellen Menschenhändlers an Bord verheimlicht habe. Für alle Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung.
NGO mit widersprüchlichen Aussagen
Auf diese konkreten Vorwürfe ging Save the Children auf Anfrage gegenüber dem Journalisten Pelda nicht ein. Die Organisation verkündete hingegen stolz, dass ihr Rettungsschiff insgesamt fast 10.000 Menschen gerettet habe, „die der sehr realen Gefahr des Ertrinkens ausgesetzt“ gewesen seien.
„Wir weisen jede Andeutung zurück, dass wir wissentlich mit Schleusern kommuniziert oder sie unterstützt haben, und wir verurteilen ihr Verhalten öffentlich. Wir haben Vertrauen in die Arbeit der italienischen Justiz und sind überzeugt, dass die Rechtmäßigkeit unserer Arbeit bestätigt wird, wenn alle Fakten geprüft worden sind.”
Diese Aussage passt nicht zu den damaligen schriftlichen Einsatzregeln des Hilfswerks, die FOCUS online vorliegen. Demnach wurde eine Zusammenarbeit mit Justiz und Polizei verweigert: „Save the Children kommt der Aufforderung nicht nach, Foto-/Medienmaterial zum Zweck der Identifizierung von Menschenhändlern usw. zu übergeben“, heißt es dort.
Schleuser laut Staatsanwaltschaft wissentlich nicht angezeigt
Ähnliche fragwürdige Methoden soll die internationale NGO „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft Trapani angewandt haben. In Telefongesprächen, die von der Polizei abgehört wurden, sprachen Mitglieder der italienischen Sektion im Juli 2017 darüber, dass mehrere Migranten an Bord eines MSF-Schiffs einen Schlepper identifiziert und der Besatzung gemeldet hätten. Offenbar aber geschah nichts weiter.
Auf der Kommandobrücke des MSF-Schiffs Vos Prudence, die mit Abhörmikrofonen verwanzt war, berichtete der erste Offizier einem Kollegen, dass ein Flüchtling an Bord sei, der den Ehemann einer hochschwangeren Afrikanerin vermutlich ermordet hatte. Die Frau, die kurz vor der Entbindung stand, hatte in der Schiffsklinikstation den mutmaßlichen Mörder wiedererkannt.
Die Staatsanwaltschaft wirft den Verantwortlichen von MSF vor, sie hätten davon gewusst und den mutmaßlichen Schleuser nicht bei den Behörden angezeigt.
Das geleerte Boot fährt mit den Schleusern davon
MSF soll Zusammenarbeit mit Schleppern in Erwägung gezogen haben
Von Journalist Kurt Pelda auf den konkreten Fall angesprochen, antwortete MSF ausweichend. Lapidar teilte man mit, dass sich Migranten nach der Ankunft in Italien selber bei der Polizei melden könnten. Die Organisation betont aber, dass sie nie mit Schleppern kooperiert und eine solche Zusammenarbeit auch nie erwogen habe.
MSF habe zudem nie im Voraus gewusst, wann und wo Rettungsoperationen stattfinden würden. Zudem sei es für Besatzungen der Hilfsschiffe auf See nicht zu erkennen gewesen, bei wem es sich um Schlepper, Fischer, Angehörige der libyschen Küstenwache oder einfach um Leute gehandelt habe, die sich nach den Rettungsaktionen die Außenbordmotoren der Migranten-Boote schnappen wollten.
Der beschlagnahmte E-Mail-Verkehr der deutschen Vereinigung „Jugend Rettet“ vom März 2017 nährt Zweifel an der Darstellung: Demnach habe MSF „beim Treffen im Januar in Berlin angedeutet, dass sie darüber nachdenken würden, in besonderen Fällen mit Schmugglern zu kooperieren”, bekundete eine deutsche Aktivistin.
Die britische NGO Human Rights at Sea, die in Berlin ebenfalls anwesend war, bestätigte damals in einer weiteren E-Mail, dass MSF bei der Zusammenkunft darüber nachgedacht habe, mit Menschenhändlern zu kooperieren, um möglichst viele Menschen zu retten. Human Rights at Sea drängte aber darauf, dass eine Kooperation mit Menschenschmugglern nicht verhandelbar sei.