Monday, March 13, 2023

Interview mit Kretschmann: „In Deutschland gibt es einen tief verwurzelten Pazifismus“

FR Interview mit Kretschmann: „In Deutschland gibt es einen tief verwurzelten Pazifismus“ Artikel von Markus Decker • Gestern um 17:06 Interview mit Kretschmann: „In Deutschland gibt es einen tief verwurzelten Pazifismus“ Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann spricht in einem Interview über den Ukraine-Krieg, das Verbrenner-Aus und die Friedensdebatte. Herr Kretschmann, Sie sind drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren. Nun erleben wir in der Ost-Ukraine Schlachten, die manche an den Ersten Weltkrieg erinnern. Hätten Sie das für möglich gehalten? Absolut nicht. Im Ersten Weltkrieg haben sich Soldaten sinnlos massakriert. Es ging oft nur um Geländegewinne von wenigen Metern. Das ist eine schauerliche Vorstellung. Jetzt erleben wir etwas Ähnliches. Allerdings war der Nationalismus damals überall der Motor. Jetzt haben wir einen neoimperialen Aggressor, der grundlos ein anderes Land überfällt. Das noch einmal erleben zu müssen, ist hart. Verbinden Sie damit persönliche Erinnerungen? Ich bin selbst Kind von Flüchtlingen und war erst vor ein paar Jahren in Ostpreußen, wo meine Eltern früher lebten. Die Fluchtgeschichten meines Bruders und meiner Schwester sind mir da noch einmal sehr nahegekommen. Sie sind im Winter 1945 über das zugefrorene Frische Haff geflüchtet. Zumindest den Krieg gegen Zivilisten haben wir in dieser Form für überwunden gehalten. Jetzt gibt es wieder regelrechten Terror gegen die Bevölkerung, Männer werden gefoltert und gequält, Frauen vergewaltigt, Infrastruktur zerstört, damit Menschen frieren. Ist dem mit einem „Aufstand für den Frieden“ und der Forderung nach Verhandlungen beizukommen, wie sie zuletzt in Berlin erhoben wurde? Mit Putin kann man nicht verhandeln. Er muss erst mal begreifen, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. Abgesehen davon hat mich das Manifest von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht höchst befremdet. Denn aus unserer Geschichte müsste man doch wissen, dass Deutschland und Russland nicht einfach über einen betroffenen Staat hinweg irgendwelche Verhandlungen führen können – so wie damals beim Hitler-Stalin-Pakt zulasten von Polen. Das ist ein unvorstellbarer Irrweg. Wie erklären Sie sich, dass manche ihn trotzdem gehen wollen? Das Wissen über geschichtliche Erfahrungen nimmt ab. Und es gibt in Deutschland einen tief verwurzelten Pazifismus. Wir Grünen haben ihn schon beim Kosovo-Konflikt überwunden, obwohl es damals in meiner Partei heftige Auseinandersetzungen und auch Austritte gab. Ich erinnere an den Farbbeutelwurf auf Joschka Fischer. Wir haben den Konflikt hinter uns und sind jetzt sehr klar. Und das empfinden Sie als Gewinn? Verwandtes Video: "Deutschland ist nicht im Krieg, aber dieser Krieg geht uns an" (AFP) Ja, diese Blindheit und Naivität haben wir überwunden. Europa muss wehrhaft sein. Putin wird ja nach Gesprächen nicht aufhören. Sie würden ihn nur zur nächsten Aggression ermutigen. Nun haben wir im vorigen Jahr gefürchtet, in kalten Wohnungen sitzen zu müssen. Auch gab es Sorgen, die Industrie könne zusammenbrechen. Warum ist das eigentlich nicht eingetreten? Die Ampel-Regierung hat einen guten Job gemacht. Das gilt ganz besonders für Robert Habeck. Das Land so durch die größte Krise der Nachkriegszeit zu führen, da muss man sagen: Chapeau! Habeck ist mit großem Risiko, Entschlossenheit und ohne Zögerlichkeit da rein. Das ist genau der richtige Instinkt in der Krise: Du musst handeln und darfst nicht zögern. Die Bevölkerung hat ebenfalls gut mitgemacht, sie hat wirklich Energie gespart. Wir haben allerdings sehr viel Geld in die Hand genommen. Und all diese Bazookas und Wummse, von denen der Kanzler sprach, führen jetzt dazu, dass die Leute glauben, der Staat könne alle wirtschaftlichen Härten abfedern. Das ist nicht der Fall. Angesichts des Konflikts mit Russland steht nun die Frage im Raum, wie viel Abhängigkeit von China wir uns noch leisten können. Haben Sie darauf eine Antwort? Wir müssen generell mehr darauf schauen, dass wir nicht so abhängig werden von einzelnen Lieferketten, bestimmten Rohstoffen oder autoritär geführten Staaten. Es ist deshalb besser, wir machen bei Freihandelsabkommen mit demokratischen Staaten Kompromisse, als abhängig zu werden von Diktaturen. Es geht nicht um Abkopplung von China. Aber wir dürfen nicht naiv sein und müssen das klug austarieren im Dreieck Systemrivale, Wettbewerber, Wirtschaftspartner. Wir brauchen Reziprozität, das heißt: Wenn wir unsere Märkte für China öffnen, dann muss China in gleicher Weise seine Märkte für uns öffnen. Greift denn diese Einsicht auch in der Wirtschaft Platz? Ja, auch wenn das nicht ganz einfach ist. Manche Branchen sind stark abhängig von China. Daher ist es umso wichtiger, bei Forschung und Entwicklung vornedran zu bleiben. Wir müssen bei Halbleitern und Chips wieder Produktlinien in Europa schaffen. Ich erinnere an Airbus. Da haben wir eine europäische Produktlinie hochgezogen und waren auf einmal mit Boeing konkurrenzfähig. Zugleich müssen wir schauen, dass die Windkraftbranche nicht so abwandert wie die Solarenergiebranche. Bei uns geht es derzeit vor allem um die ökologische Transformation der Wirtschaft. Braucht so ein ökonomisch starkes Land wie Baden-Württemberg da überhaupt noch Hilfe? Ja. Die grüne und digitale Transformation sind Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit der EU. Wirtschaftsstarke Regionen wie Baden-Württemberg haben hier eine Schlüsselrolle. Wir müssen mehr die Stärken stärken. Deshalb passt die Unterscheidung zwischen strukturschwachen und strukturstarken Regionen einfach nicht mehr in die Zeit. Baden-Württemberg und Bayern sind die wirtschaftlichen Lokomotiven Deutschlands. Diese Kraftzentren bleiben wichtig für die europäische Souveränität. Das europäische Beihilferecht stimmt da nicht mehr. Die EU muss starke Regionen wirkungsvoll unterstützen – und nicht erst dann Hilfe leisten, wenn sich der Niedergang abzeichnet und wir das Ruhrgebiet des 21. Jahrhunderts werden. Was bedeutet das konkret? Das bedeutet etwa, dass wir preiswerteren Industriestrom brauchen. Ich bin jetzt kein Freund allgemeiner Steuersenkungen. Unser Haushalt ist schon sehr belastet. Aber ein günstigerer Industriestrom wäre absolut das Gebot der Stunde. Die FDP scheint Transformation bisweilen so zu verstehen, als könne mit der fossilen Wirtschaft alles weiter gehen wie bisher. Die FDP muss aufpassen, dass sie aus ihren wirtschaftsliberalen Ideen keine Weltanschauung macht. Politik ist nun mal eine sehr pragmatische Veranstaltung. Dass die FDP ihre Grundsätze hat, ist völlig in Ordnung. Dazu gibt es sie ja. Die FDP muss nur gucken, dass sie die eigenen Grundsätze nicht dogmatisiert. Damit ist niemandem gedient. Sie meinen das Nein zum Verbrenner-Aus auf EU-Ebene im Jahr 2035. Bei der Frage der Elektromobilität kann man jetzt nicht rummachen und darauf warten, dass uns irgendwelche Modelle aus China überrollen. Ich verstehe gar nicht, was die FDP da eigentlich will. Letztlich fällt sie damit sogar der eigenen Automobilindustrie in den Rücken, die ja schon konsequent am Umstieg arbeitet und diese Planungssicherheit einfordert.