Tuesday, March 28, 2023
Analyse von Ulrich Reitz - Im Koalitionskrach geht es jetzt um eine Lebenslüge
Analyse von Ulrich Reitz - Im Koalitionskrach geht es jetzt um eine Lebenslüge
Artikel von Von FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz (Düsseldorf) • Gestern um 12:29
Irgendwann geht es in einer Koalition um die eigenen Lebenslügen. Spätestens dann, wenn es ums Geld geht, ist es so weit. Also jetzt.
Nein, diese Regierung ist nicht „stehend k.o.“, wie Friedrich Merz behauptet. Diese Regierung hat vielmehr gerade 18 Leopard-2-Panzer in die Ukraine geliefert. Was sie versprochen hatte. Versprechen zu halten machen nicht Leute, die am Ende sind.
Streit ist unpopulär, in Deutschland besonders. Es gibt demokratische Länder, die haben eine ganz andere Streitkultur. Israel beispielsweise. Dort hat demokratischer Straßenprotest – Kinder skandieren , wie rührend, „Demokratie“ – einen konservativen Ministerpräsidenten gestoppt, samt seines religiös-fundamentalistischen Koalitionspartners.
Dagegen sind nächtliche Koalitionsverhandlungen, die nach dem ersten Tag ohne Ergebnis enden, Kleinkram. Wir sollten auf dem Boden der Tatsachen bleiben – einem Land, in dem man sich über eine fruchtlose Ampelnacht aufregen kann, muss es immer noch ziemlich gut gehen.
In einer Koalition gibt es nunmal Eigendynamiken
Gewiss – eine Bundesregierung ist zum Regieren da. Daher der Name. Mit der Aussage, „Wir hier sind das Team Streit, und das ist auch gut so“, käme man nicht so richtig weiter. Am Ende müssen Ergebnisse stehen, zur Not eben unvernünftige. Das ist auch bei Tarifverhandlungen nicht anders, man kann das gerade studieren, weil die Gewerkschaften im Kern aktuell gegen das Volk streiken, denn bezahlen werden am Ende alle dafür.
In einer dieser Merkel-Koalitionen waren die einen einmal für eine Mehrwertsteuererhöhung, die anderen dagegen. Am Ende wurde die Mehrwertsteuer gleich um drei Prozent angehoben. War das vernünftig? Eher nicht. Aber Merkel konnte weiter regieren. So funktionieren Koalitionen, es gibt nächtliche Eigendynamiken.
Jetzt wollen die einen die Autobahn ausbauen, die anderen die Bahn, die dritten wollen eine Kindergrundsicherung. FDP, Grüne, SPD – jeder will seins. Ein Kompromiss wäre an und für sich leicht, nach dem Muster der Mehrwertsteuer-Erhöhung von ehedem:
Bisweilen bestimmt das Sein das Bewusstsein
Jeder kriegt alles, und flugs gibt es nur noch Sieger. Das geht aus guten Gründen allerdings dieses Mal nicht. Erstens ist kein Geld da für alles, jedenfalls sagt das der Finanzminister, der auch die Macht hat, das Durchzusetzen. Was dem Bundeskanzler seine Richtlinienkompetenz, ist dem Finanzminister sein Vetorecht beim Geld.
Der zweite Grund rührt allerdings an den Bestand dieser „Fortschrittskoalition“. Die Grünen finden nicht, dass Straßen und Autobahnen „Fortschritt“ sind. Fortschrittlich finden sie nur die Bahn. Der Grund dafür ist auch eine soziologische Verortung.
Die Grünen sind eine Großstadtpartei. In einer Stadt wie Berlin ist es mehr oder weniger sinnlos, mit dem Auto zu fahren. Wäre Deutschlands Bundeshauptstadt dort, wo Friedrich Merz wohnt, in Arnsberg, es gäbe auch bei den Grünen keine Diskussionen mehr über die Notwendigkeit von Autobahnen. Bisweilen bestimmt doch das Sein das Bewusstsein.
Die neue Deutschland-Geschwindigkeit“ hat ihre Tücken
Der Bundeskanzler sagt, man könne jetzt nicht mehr so langsam weitermachen wie bisher. Man habe da Gesetze „zusammengeschraubt“, die sich heute als Hindernis für kraftvolles Regieren entpuppen würden. Nun, was da „zusammengeschraubt“ wurde, unter anderem jahrelang von Sozialdemokraten, hieß, bevor der forsche Scholz kam: Demokratie.
Keine mehrheitlich linke Koalition hat es leicht, wenn sie mit einer linken Lebenslüge aufräumen muss: Dass alles besser wird, je mehr Menschen man nicht nur fragt, sondern auch an Entscheidungen beteiligt. Schneller Bahnstrecken oder Autobahnen oder LNG-Terminals zu bauen heißt auch:
Durchregieren wollen. Wer Windräder in Turbo-Geschwindigkeit aufstellen will, darf sich mit den Rotmilanen erst gar nicht aufhalten. Auch nicht mit den Sorgen von Bürgern um den Wert ihres Einfamilienhauses im Schlagschatten eines solchen Wind-Wumms.
Damit die Bürger nicht mitbekommen, wie fundamental diese Änderung am Ende sein wird, hat der Inhaber der Richtlinienkompetenz sich ein neues Wort einfallen lassen. Es dient dazu, viele Einwände unter einem großen Ganzen zu begraben. Es heißt: „Deutschland-Geschwindigkeit“.
„Fortschrittskoalition“ - nur eine leere Worthülse?
Wer das Wort hat, hat die Macht. Das hat schon einmal funktioniert. Hätte Olaf Scholz vor einem Jahr gesagt: „Wir wollen jetzt endlich wieder aufrüsten und gutes deutsches Kriegsgerät in eine heiße Krisenregion bringen“, wäre die Sache wohl schlecht für ihn ausgegangen. Sie ging auch deshalb gut aus, weil Scholz das Wort „Zeitenwende“ eingefallen ist.
Beinahe schon anderthalb Jahre hat jetzt die Rhetorik diese Regierung der Ungleichen zusammengehalten. Früher hießen Regierungen einfach Regierungen. Oder man kleidete sich in Farben: Schwarz-Rot, Schwarz-Grün, und so weiter. Dann kamen Ländervergleiche in Mode und plötzlich gab es eine Kenia-Koalition. Seitdem steht „Jamaika“ auch für das Scheitern, womit den Jamaikanern vielleicht Unrecht geschieht.
Die amtierende Koalition hat hinter einer schillernden Wortfassade die ideologische Differenz ihrer Mitglieder versteckt: „Fortschrittskoalition“ ist als politische Wortschöpfung schon darum unverwechselbar, weil es das Gegenteil davon nicht gibt. Will sagen: „Fortschrittskoalition“ ist so nichtssagend wie „Deutschland-Geschwindigkeit“ oder „Zeitenwende“ – aber derlei hilft, eine gewisse Zeit halbwegs sauber über die Runden zu kommen.
Das allerdings gerät an sein Ende, wenn es ums Geld geht. Im Namen von Liberalität und Selbstbestimmung ein Nachnamen-Potpurri zu erlauben oder eine Geschlechterzuweisung nach persönlichem Ermessen, kostet wenigstens nichts. Bei Autobahnen, Schienen und Kindergrundsicherungen ist das anders.
Ob uns der Bundeskanzler denn gleich wenigstens ein neues Wort mitbringt?