Friday, March 24, 2023
Kommentar zur Flüchtlingskrise und den Kommunen: Sozialer Friede in Gefahr
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Kommentar zur Flüchtlingskrise und den Kommunen: Sozialer Friede in Gefahr
Artikel von Rüdiger Soldt • Vor 5 Std.
Wenn eine Kommune ihre Bürger über die Einrichtung eines Flüchtlingsheims informiert, dauert es häufig wenige Tage, bis sich Protest regt. Die Akzeptanz für die Unterbringung von Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen schwindet gerade in Deutschland.
Protest gegen den Bau einer Flüchtlingsunterkunft am 10. März 2023 in Grevesmühlen in Mecklenburg-Vorpommern
Wie stark Verteilungskonflikte den sozialen Frieden gefährden können, zeigte kürzlich die Debatte über Sozialwohnungen in Lörrach. Ein kommunikatives Missverständnis reichte aus, um Deutsche gegen Einwanderer auszuspielen. Erwartungsgemäß instrumentalisieren Rechtsextremisten solche Vorfälle.
Häufig kommt der Widerspruch aber aus der Mitte der Gesellschaft: Bürger können schwer einsehen, wie Integration gelingen soll, wenn in einem Ortsteil mit 120 Einwohnern eine Unterkunft mit 100 Flüchtlingen gebaut wird.
Landräte kleiden diese Situation dieser Tage – in Anlehnung an eine Aussage der früheren Bundeskanzlerin – gern in den Satz: „Wir schaffen das nicht mehr geräuschlos.“ Um die Integration neu ankommender Flüchtlinge können sich Kommunen aufgrund des Personalmangels schon lange nicht mehr kümmern, es reicht nur für eine „Ankunftsbegleitung“, also das Ausfüllen der Dokumente.
Die Akzeptanz ukrainischer Kriegsflüchtlinge ist in der Bevölkerung höher, gleichwohl ist die Lage prekärer: Die Situation am Wohnungsmarkt ist angespannter, das Engagement vieler Ehrenamtlicher erschöpft.
Baden-Württemberg nahm 2022 mehr Flüchtlinge auf als Frankreich
Ein Blick auf die Fakten zeigt: Im Jahr 2022 stieg die Zahl der Asylanträge um fast 30 Prozent, gleichzeitig mussten eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen werden. Allein Baden-Württemberg nahm 2022 178.000 Flüchtlinge auf, 70 Prozent mehr als 2015 und deutlich mehr als das größere und weniger dicht besiedelte Frankreich. In 19 von 35 Landkreisen im Südwesten leben Flüchtlinge in Notunterkünften.
Bei der Flüchtlingsaufnahme sind die Kommunen Leistungsträger und Leidtragende zugleich: Sie sind diejenigen, die 2015 die erste Flüchtlingskrise gut bewältigt haben; sie sind jetzt die Leidtragenden eines dysfunktionalen europäischen und deutschen Asylsystems, denn sie müssen für sehr viele Menschen Wohnungen suchen und Integrations- und Sozialleistungen anbieten, die gar keine Bleibeperspektive haben.
Bei etwa 50 Prozent der Asylbewerber lehnt das Bundesamt den Antrag ab, entweder, weil er sachlich unbegründet ist oder Deutschland nicht Ersteinreiseland war. Städte, Gemeinden und Landkreise leiden besonders darunter, was der Migrationsforscher Ruud Koopmans zu Recht „Asyllotterie“ nennt. Den Kommunen wäre am meisten geholfen, wenn sie sich nur um Flüchtlinge mit Bleibeperspektive kümmern könnten. Hinzu kommen problemverschärfende Entwicklungen: Viele Ukrainer verlassen jetzt ihre vorübergehenden privaten Unterkünfte und fragen bei den Städten nach einer Wohnung nach.
Von den kommunalen Spitzenverbänden und von exponierten Kommunalpolitikern kommen derzeit eine Reihe von Vorschlägen zur Situationsverbesserung, manche lassen sich schnell umsetzen, andere hängen mit den Schwächen des europäischen Asylsystems zusammen. Sicher würde es Kommunen entlasten, wenn Asylanträge in nationalen Ankunftszentren oder gar in den Nachbarländern der Herkunftsstaaten entschieden würden, nur hierüber wird jahrelang ohne größere Fortschritte debattiert. An der Rechtsweggarantie würde sich dadurch auch nichts ändern.
Höhere Sozialleistungen machen Deutschland attraktiv
Vorgeschlagen wird auch eine Angleichung der Sozialleistungen in Europa. Eine Ukrainerin mit Kind bekommt in Berlin 700 Euro – in Warschau 300 Euro, das macht Deutschland attraktiv. Andere Vorschläge lassen sich schnell realisieren: Die Bundesregierung könnte die Zahl der sicheren Herkunftsstaaten ausweiten; sie könnte das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz endlich verabschieden.
Auch ist eine Mitwirkungspflicht für Geflüchtete bei gemeinnützigen Tätigkeiten sinnvoll. Und man sollte über Standardabsenkungen sprechen: Die Rechtsansprüche auf einen Kitaplatz oder die Ganztagsbetreuung in Grundschulen sind kaum aufrechtzuerhalten.
Die Brandbriefe an die Ampelregierung schrieben Politiker von Union, SPD, FDP und Grünen. Unverständlich sind deshalb das zögerliche Vorgehen des Bundeskanzlers und sein Versuch, die Problemlösung wegzudelegieren.
Wegen des eigenen moralischen Anspruchs an eine humanitäre Flüchtlingspolitik kommt den Grünen in der Ampel jetzt eine Schlüsselrolle zu. Hilfreich wäre es, wenn die Partei auch über einige der Reformvorschläge ihrer Landräte und Bürgermeister diskutierte. Denn die tun nichts anderes, als aus der Praxis politische Folgerungen abzuleiten.