Thursday, March 23, 2023

Nord Stream: Seymour Hersh recherchiert genauso naiv und lückenhaft wie ZEIT und ARD

Berliner Zeitung Nord Stream: Seymour Hersh recherchiert genauso naiv und lückenhaft wie ZEIT und ARD Artikel von Jesko zu Dohna • Gestern um 15:10 Der legendäre US-Investigativjournalist Seymour Hersh, der vor sechs Wochen eine vielbeachtete „Enthüllung“ zu den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipeline veröffentlicht hatte, hat jetzt noch einmal furios nachgelegt. In seinem neuesten Artikel „The Cover-up“ schreibt Hersh auf seinem Substack-Account, dass die von der New York Times und der Zeit publizierten Recherchen, wonach eine proukrainische Gruppierung mit Hilfe eines Segelboots und Tauchern für die Anschläge verantwortlich seien, eine Vertuschungsaktion der US-Behörden und des Weißen Hauses gewesen sei. Die Journalisten beider Häuser seien dazu benutzt worden, davon abzulenken, dass die USA für die Explosionen der Pipeline verantwortlich seien, schreibt Hersh. Und dass sogar Bundeskanzler Olaf Scholz in diese Maskerade eingeweiht gewesen sein soll. Amerikanische und deutsche Behörden hätten bewusst die Geschichte mit der Segeljacht Andromeda lanciert, um seine – der Wahrheit entsprechende – Recherche zu diskreditieren. Das Problem an dem neuen Artikel von Seymour Hersh ist allerdings, dass er für die vorgebrachten Anschuldigungen keinerlei Beweise hat und den Redaktionen von New York Times und Zeit die gleichen Fehler und Ungenauigkeiten vorwirft, die er in seiner ersten Nord-Stream-Recherche selbst gemacht hat: sich nur auf anonyme offizielle Informanten zu stützen. Die Frage ist also, könnte Seymour Hersh nicht auch benutzt worden sein? Woher kann er wissen, dass seine angeblichen Geheimdienstkontakte zuverlässiger sind als die anonymen Behördenkontakte, die die anderen Medien wiedergeben? Zugegeben: Seymour Hersh ist nicht irgendwer. Das Repertoire seiner Enthüllungen ist beeindruckend. Wohl kaum ein Journalist ist so erfahren wie Hersh. Ein kurzer Abriss: 1969 deckte Hersh das Massaker von My Lai auf, wonach durch US-Truppen im gleichnamigen südvietnamesischen Dorf 504 Zivilisten grausam ermordet und geschändet wurden. 1970 erhielt Hersh dafür den Pulitzer-Preis. Hersh recherchierte auch zum israelischen Atomprogramm, federführend in der Watergate-Affäre, und deckte unter anderem die Verbrechen im irakischen Foltergefängnis „Abu Ghraib“ auf. In den vergangenen Jahren allerdings lag Hersh mit seinen Recherchen selten richtig. Seine Geschichte zur Ermordung von Osama bin Laden in Pakistan, die er als Inszenierung bezeichnete, wurde vom New Yorker wegen dürftiger Quellenlage abgelehnt. Und sie gilt als widerlegt. In mehreren Artikeln schrieb Hersh auch, dass Aufständische und nicht das syrische Regime chemische Waffen im Bürgerkrieg eingesetzt hätten. Eine abenteuerliche Einschätzung, die später unter anderem durch die Uno und Menschenrechtsorganisationen widerlegt wurde. In einer weiteren Geschichte in der Zeitung Die Welt verteidigte er unter anderem das Regime von Diktator Baschar al-Assad, den er zuvor mehrmals getroffen hatte. In einem Punkt hat Hersh Recht: Die Recherchen von New York Times und Zeit, wonach eine Gruppe von sechs Personen auf einer 15 Meter Segeljacht Sprengstoff zum Tatort transportierte und mit Hilfe von Tauchern in 80 Metern Tiefe die Nord-Stream-Leitungen sprengte, lesen sich abenteuerlich. Das haben Medien und selbständige Journalisten wie der Däne Oliver Alexander inzwischen herausgefunden. Auch die Berliner Zeitung hatte dazu mit einem der Rechercheure von Zeit und ARD gesprochen: Man habe weder Fotos noch Dokumente von der Quelle bekommen, die man einsehen hätte können, sagt ein Journalist. Man gebe lediglich „Schlussfolgerungen der Ermittler“ wieder. Ob diese der Wahrheit entsprechen und ob die Anschläge wirklich so ausgeführt worden sind, ist immer noch ungeklärt. Die Geschichte gilt inzwischen als höchst unwahrscheinlich. Aber nur, weil die Kollegen bei ihren eigenen Recherchen Fehler gemacht haben, heißt das noch lange nicht, dass Hershs eigene Geschichte, die ebenso wie die Recherchen von New York Times und Zeit von anderen Medien als abenteuerlich und teilweise fehlerhaft auseinandergenommen wurden, dadurch rehabilitiert ist. Ganz im Gegenteil, denn Seymour Hersh hat auch nicht viel mehr in der Hand als ebenso anonyme staatliche oder geheimdienstliche Quellen, die die Öffentlichkeit nicht überprüfen kann. In seiner jüngsten Veröffentlichung schreibt Hersh, dass Bundeskanzler Scholz im März 2022 ohne deutsche Pressevertreter nach Washington gereist sei. Auch ein offizielles Abendessen und eine Pressekonferenz habe es, wie es bei solchen hochrangigen Treffen üblich sei, nicht gegeben. „Stattdessen wurde später berichtet, dass Biden und Scholz ein 80-minütiges Treffen hatten, bei dem die meiste Zeit über keine Berater anwesend waren“, schreibt Hersh, „seitdem wurden von keiner der beiden Regierungen Erklärungen oder schriftliche Absprachen veröffentlicht.“ Auch wenn das Gespräch geheim bleiben sollte und keine Berater anwesend gewesen seien, sei Hersh von einem Geheimdienstmitarbeiter später informiert worden, dass „die CIA in Zusammenarbeit mit dem deutschen Geheimdienst eine Titelgeschichte vorbereiten solle, die die amerikanische und deutsche Presse mit einer alternativen Version für die Zerstörung von Nord Stream 2 versorgt“. Ein anderer anonymer Informant aus der „Geheimdienst-Community“ habe ihm auch gesagt, die Geschichte mit der Segeljacht sei eine „reine Erfindung“ der US-Geheimdienste, um Hershs Geschichte zu diskreditieren. Das Ganze solle den US-Präsidenten schützen, der die Öffentlichkeit über die wirklichen Geschehnisse, wonach er die Sprengung der Pipeline befohlen habe, „belügt“. Glaubt der 86-jährige Hersh wirklich daran, dass er als einziger Journalist weiß, wie es sich wirklich zugetragen hat? Ist Hersh ein Genie, paranoid oder nur ein eitler Journalist, der es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt? Wir wissen es natürlich nicht. Aber vor dem Hintergrund seiner Vita liest sich seine jüngste Geschichte auch wie die Rechtfertigung eines alternden Journalisten, der Widerspruch offenbar nicht ertragen kann. Oder der von der Richtigkeit des eigenen Narrativs vielleicht ein bisschen zu überzeugt ist. Ähnlich wie die Journalisten bei ZEIT und ARD?