Tuesday, March 15, 2022

Russlands Angriffsplan: Wir brauchen eine neue Luftbrücke, sofort

ZEIT ONLINE Russlands Angriffsplan: Wir brauchen eine neue Luftbrücke, sofort Gerald Knaus - Vor 4 Std. Europa hat noch nicht begriffen, dass die ukrainischen Flüchtlinge zu Putins Angriffsplan auf uns gehören. Wie eine Antwort auf die Millionen Flüchtenden aussehen könnte Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) ist einer der einflussreichsten flüchtlingspolitischen Experten Europas. Er hat das EU-Türkei-Abkommen mitentwickelt und das Buch "Welche Grenzen brauchen wir?" (2019) geschrieben. Hier skizziert er, wie eine Antwort der EU auf die Massenflucht aus der Ukraine aussehen könnte. Knaus nennt es den "Scholz-Macron-Plan" und stellt ihn in diesen Tagen auch den Mitgliedern der deutschen Regierung vor. Die Zahlen zu kennen, ist das eine. Ihre Bedeutung für uns zu erfassen, ist etwas ganz anderes. Vielen in Europa fällt es noch schwer zu begreifen, was das heißt: die größte Flüchtlingskatastrophe in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu erleben. Und was es heißt, darauf richtig zu reagieren. Leider haben wir nicht viel Zeit, um uns an die neue Realität zu gewöhnen. Wir müssen jetzt sofort so denken und handeln, wie es den Dimensionen der Aufgabe entspricht. Seit dem Beginn von Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine am 24. Februar sind bislang täglich an die 150.000 Menschen – vor allem Frauen und Kinder – aus der Ukraine in die Europäische Union und nach Moldawien geflohen. Das sind 1 Million Menschen in der Woche. Während der ebenfalls historische Flüchtlingsbewegung 2015 kamen in 12 Monaten eine Million Menschen aus der Türkei über die Ägäis in die EU. Tatsächlich meldet die Internationale Organisation für Migration (IOM) schon an diesem Dienstag, nach nicht mal drei Wochen Krieg, dass bereits drei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer das Land verlassen haben – fast alle nach Europa. Die praktische Frage lautet: wie kann Europa darauf reagieren? Polen, Moldawien und Ungarn werden diese Menschen kaum noch aufnehmen können. In Warschau (Einwohnerzahl vor dieser Krise: 1,8 Millionen) sind bereits 300.000 Flüchtlinge, in Polen 1,7 Millionen. Im ärmsten Land Europas, in der Republik Moldau, sind jetzt mit 100.000 Flüchtlingen mehr untergebracht als in der ganzen Krise 2015 im reichen Österreich aufgenommen wurden. Mindestens zwei Millionen Menschen, wahrscheinlich sogar viel mehr, vor allem Frauen und Kinder, werden also in den nächsten Wochen eine Unterkunft und Aufnahme suchen. Wo und wie werden sie diese finden? Deutsche und Österreicher brauchen nur einen Blick auf die Karte europäischer Bahnverbindungen zu werfen, um zu erkennen: Die Menschen werden fast alle nach Berlin und Wien kommen. Außer es gelingt Europa (und Nordamerika) gemeinsam und rechtzeitig, die Menschen zumindest zum Teil vorher auf anderem Weg zu verteilen. Etwa so: Eine Million Menschen steigen in den nächsten zwei Wochen in Flugzeuge (oder Busse) und werden, anstatt direkt nach Deutschland und Österreich zu kommen, in andere europäische Staaten gebracht – nach Spanien, Portugal, Irland oder Schweden, aber auch in das Vereinigte Königreich oder nach Kanada. Ist das realistisch? Wenn Spanien und Portugal gemeinsam bis Ende März 160.000 Menschen aufnehmen würden, ebenso jeweils Frankreich und Großbritannien: dann ja. Dies aber würde bedeuten: 1.500 Flüge mit jeweils 300 Personen bis Ende März nur in diese vier Länder. In Schweden hat die Regierung den Ernst der Lage bereits verstanden, spricht von bis zu 200.000 Aufzunehmenden. Im Rest Europas ist dies noch nicht der Fall. Ja, selbst wenn die sofortige, europaweite flüchtlingspolitische Mobilisierung gelingen sollte, müssten sich Deutschland und Österreich darauf einstellen, mehr als eine Million Menschen selbst aufzunehmen. Aber sie wären dann immerhin nicht alleine. Die Logistik einer solchen Luftbrücke für aus der Ukraine Geflüchtete wäre eine enorme Herausforderung, aber machbar. Ob es am Ende Flieger der Lufthansa oder von Easyjet sind, spielt keine Rolle. In jedem Land müsste dann auf allen Ebenen eine ähnliche Mobilisierung einsetzen, wie sie in Polen und Deutschland gerade erfolgt, mit Appellen an die Zivilgesellschaft und Städte, Menschen aufzunehmen, ergänzt durch temporäre Unterbringung in leeren Hallen, Hotels, staatlichen Aufnahmezentren. Dazu müssten Ukrainerinnen dort, wo die Flugzeuge abfliegen sollen, das Vertrauen haben, dass es zu ihrem Wohl wäre, nach Lissabon und Dublin zu gehen. Das erfordert eine Organisation, wie es sie in Europa seit Jahrzehnten nicht gab. Immerhin: Die rechtliche Grundlage dafür existiert schon. Durch das Inkrafttreten der EU-Massenzustromrichtlinie haben alle, die zu uns fliehen, das Recht überall in der EU aufgenommen zu werden. Das ist eine dramatische Erleichterung und ein großer Unterschied zur bisherigen Flüchtlingspolitik, wo Nationalstaaten es Städten untersagt haben, auf eigene Faust Geflüchtete aufzunehmen: Wenn heute alle Großstädte der EU verkündeten, jeweils mehr als zwei Prozent ihrer Bevölkerung aufnehmen zu wollen, könnten sie das rechtlich sofort tun. Man müsste die Menschen nur direkt zu ihnen bringen. Die größte Herausforderung ist deshalb nicht rechtlich, auch nicht nur logistisch, sondern politisch. Welche Institution kann binnen Tagen mit all jenen, die für den Erfolg einer Flüchtlingsluftbrücke 2022 gebraucht würden, diese historische Hilfe koordinieren? Wer telefoniert mit dem spanischen Premierminister und erklärt, dass es nicht genügen wird, irgendwann in den nächsten Monaten 20.000 Menschen aufzunehmen, sondern 120.000 in zwei Wochen? Wer überzeugt die Regierung in London, wo die "Massenzustromrichtlinie" der EU ja nicht gilt, trotzdem und sofort mitzumachen? Wer kommuniziert in den vielen Sprachen Europas schnell genug, worum es hier am Ende geht: eine humanitäre Großtat, die nicht nur Millionen Menschen helfen, sondern gleichzeitig das zynische politische Kalkül Putins am Beginn dieses neuen, gar nicht so Kalten Krieges durchkreuzen soll? Denn auch das haben wir noch nicht richtig begriffen: Der russische Präsident hofft darauf, dass die Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor seinen Bomben fliehen, schon bald die europäischen Gesellschaften destabilisieren. Deshalb braucht es jetzt sofort eine kleine, flexible und vor allem politische Struktur, am besten ernannt von der EU und der G7, die aus gut vernetzten und kommunikationsbegabten Personen besteht, ehemalige, aber immer noch tatendurstige Regierungschefs oder Ministerinnen. Frankreichs Emmanuel Macron und Kanzler Olaf Scholz, die glücklicherweise gerade der EU und G7 vorsitzen, sollten dieses Team noch diese Woche ernennen, vielleicht mit Sitz in Berlin, dem Epizentrum dieser Krise. Gesucht: eine Mischung aus Lucius Clay, dem amerikanischen General der Berliner Luftbrücke, und Ernst Reuter, dem damaligen Westberliner Bürgermeister, beides Protagonisten der ersten großen humanitären Bewährungsprobe im letzten Kalten Krieg. Ein solches Koordinationsteam braucht keine formale Macht, soll es doch nicht in Konkurrenz zu bestehenden Institutionen treten, von der Europäischen Kommission bis zu internationalen Organisationen, sondern mit diesen kooperieren. Das geht nur durch Überzeugen und den Fokus auf eine gemeinsame Aufgabe. Für einen Erfolg braucht es dreierlei. 1. Eine öffentliche Liste, auf der alle großen Zusagen zur Aufnahme von Geflüchteten durch Städte, Länder und Regionen jeden Tag für alle Welt sichtbar erfasst werden: ein balance sheet der Solidarität. 2. Direkten Zugang zu Regierungen und großen staatlichen und privaten Transportunternehmen, um die Zusagen (grob) zu koordinieren, sodass Lücken geschlossen werden. 3. Ein Team von Filmemachern und Kommunikationsexperten, um diese Mobilisierung in ganz Europa in Echtzeit zu dokumentieren, zu teilen und damit zu verstärken. Denn die wichtigste Voraussetzung, um eine solche Mission möglich zu machen, ist die Empathie von Millionen. Empathie wiederum lebt von Aufmerksamkeit und packenden, emotionalen Geschichten, die so erzählt werden müssen, dass sie Mut machen und andere inspirieren. 1948 gelang dies in Berlin, als in einer einzigartigen Operation nicht nur die Versorgung von Westberlin durch 170.000 Flüge erfolgte, wobei Dutzende alliierte Piloten ums Leben kamen. Es war auch eine mächtige politische Antwort, die die Politik Europas bis heute veränderte, weil aus ihr kurz danach die Institutionen des heutigen Westens hervorgingen: die Nato, der Europarat, die europäische Integration. Stalins Erpressung scheiterte damals, der Kalte Krieg begann als Kampf der Werte. Heute muss Putins zynisches Ziel, durch brutale Kriegsführung wie schon in Syrien und Tschetschenien die EU zu erpressen, ebenso scheitern. Putins Kalkül ist so brutal wie nachvollziehbar: durch Vertreibung von Zivilisten in der Ukraine nicht nur die Ukrainerinnen und Ukrainer zu demoralisieren und zur Aufgabe zu zwingen, sondern auch die EU dazu zu bringen, die Ukrainerinnen zu verraten. Eine Luftbrücke 2022, ein Macron-Scholz-Plan zur Umsetzung der bereits beschlossenen großzügigsten Aufnahmepolitik von Flüchtlingen weltweit in Jahrzehnten, wäre die notwendige Antwort darauf. Es geht darum, Menschen zu helfen, den Westen als Wertegemeinschaft wiederherzustellen und auf menschenverachtenden Zynismus mit Humanität zu antworten. Und das sofort.