Tuesday, March 15, 2022

Krieg in der Ukraine: Wo Geschichte geschieht

Krieg in der Ukraine: Wo Geschichte geschieht Von Tomas Avenarius, Lwiw, und Viktoria Großmann - Vor 40 Min. -/dpa Die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien reisen ins belagerte Kiew. Ein ungewöhnlicher Akt der Solidarität. Wo Geschichte geschieht Es ist ein spektakuläres Beharren auf der Einheit Europas und Ausdruck des persönlichen Mutes dreier europäischer Staatsmänner. Völlig überraschend haben die Ministerpräsidenten Polens, Tschechiens und Sloweniens am Dienstagmorgen bekanntgegeben, sofort in das von der russischen Armee belagerte Kiew zu fahren - mit dem Zug. Die ukrainische Hauptstadt wird seit zwei Wochen von der russischen Armee beschossen. Auch in der Nacht vor der Reise der drei Regierungschefs waren Raketen und Granaten in der Millionenstadt eingeschlagen. Einen offiziellen Auftrag der Europäischen Union hatten die drei Politiker indes nicht. Sie fuhren dennoch. "In diesen umwälzenden Zeiten für die Welt, ist es unsere Pflicht dort zu sein, wo Geschichte geschieht", schrieb der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki vor der Reise auf Facebook. "Denn es geht nicht um uns, sondern um die Zukunft unserer Kinder, die es verdienen, in einer Welt frei von Tyrannei zu leben." Moskau dürfte über den Verlauf der Reise der Politiker informiert worden sein. Der Zug gilt zudem als ein noch immer halbwegs sicheres Verkehrsmittel im Kriegsgebiet: Die russische Armee beschießt das ukrainische Schienennetz eher selten. Sie braucht es, um nach der Eroberung weiterer ukrainischer Gebiete eigene Truppen zu verlegen. Dennoch birgt die Zugreise größte Risiken für die drei Regierungschefs. "Heute, am 20. Tag der bewaffneten Aggression Putins gegen die Ukraine ... wollen wir den Ukrainern unsere Solidarität zeigen", hatte Mateusz Morawiecki bei Reiseantritt auf Facebook geschrieben. Der tschechische Premier Petr Fiala twitterte: "Ziel unseres Besuches ist es, die geschlossene Unterstützung der Europäischen Union für die Ukraine, für ihre Freiheit und Unabhängigkeit auszudrücken." Aus Brüssel hieß es, man sei über die Reise informiert worden Die Regierungschefs überquerten am Morgen gegen halb neun die polnisch-ukrainische Grenze bei Przemyśl, und passierten Lwiw am Vormittag. Die Reise nach Kiew soll zwischen sieben und neun Stunden dauern. In der Hauptstadt wollen sie den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij und seinen Premier Denys Schmyhal treffen. Auch der Vize-Ministerpräsident und Vorsitzende der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) Jarosław Kaczyński fuhr mit. Die Regierungschefs teilten mit, sie hätten vor der Reise die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen sowie EU-Ratspräsident Charles Michel konsultiert. Den Reiseplan dazu habe man beim Treffen in Versailles Ende vergangener Woche als eine Art gemeinsamer Vermittlungsaktion gefasst. Aus Brüssel hieß es, man sei über die Reise informiert worden. Die Reise ist ein mehr als ungewöhnliches Statement dreier osteuropäischen Politiker. "Heute die Ukraine, morgen Georgien, übermorgen die Baltischen Staaten und dann kann meinem Land die Stunde schlagen", schrieb Morawiecki auf Facebook. Die drei Politiker reisen an, während Präsident Selenskij, der als eines der Hauptziele der russischen Invasoren gilt, sich nur noch im Geheimen bewegen kann. Er zeigt sich dennoch immer wieder im Präsidentenpalast und an anderen Orten der Hauptstadt , um der eigenen Bevölkerung Mut zu machen. In der Stadt gilt von Dienstagabend an für 35 Stunden eine strikte Ausgangssperre, die Bewohner dürfen ihre Wohnungen nur verlassen, um sich in Luftschutzräume zu begeben. In Polen ist die Sorge gewachsen, nachdem die russischen Angriffe auf den Westen der Ukraine ausgeweitet worden sind Die Reise fällt in eine Zeit, in der Bewegung in die diplomatischen Bemühungen zur Beendigung des Konflikts gekommen ist. Nach Ansicht des ukrainischen Präsidentenberaters Olexii Arestowitsch könnte der Krieg gegen Russland aber noch bis Mai andauern. "Ich denke, wir sollten bis Mai, Anfang Mai, ein Friedensabkommen haben, vielleicht viel früher", sagte er. Doch das könnte Wunschdenken sein. Besonders in Polen ist die Sorge gewachsen, nachdem die russischen Angriffe am Wochenende auch auf den Westen der Ukraine ausgeweitet worden sind. Die Luftschläge gegen eine Militärbasis unweit der Grenze zu Polen, bei denen mindestens 35 Menschen gestorben waren, haben in Warschau die Furcht verschärft, dass sich der Konflikt auf polnisches Territorium ausweiten könnte. Der tschechische Präsident Miloš Zeman hatte sich erst bei Kriegsbeginn von Russland distanziert Polen pflegt seit Jahren sehr enge Beziehungen zur Ukraine und unterstützt den europäischen Kurs des Landes. In Tschechien ist erst im Dezember eine neue Regierung angetreten, die sich anders als die vorangegangene, sehr deutlich von der russlandfreundlichen Haltung des eigenen Präsidenten absetzt. Der tschechische Präsident Miloš Zeman hatte sich erst bei Kriegsbeginn von Russland distanziert, jahrelang galt er nur als "Botschafter" Russlands wie auch Chinas im eigenen Land. Der eigene Geheimdienst betrachtete Mitarbeiter Zemans als Sicherheitsrisiko. Der slowenische Premier Janez Janša errang eine weltweite Berühmtheit, als er dem früheren US-Präsidenten Donald Trump 2020 vorzeitig zum erneuten Wahlsieg gratulierte. Auch die polnische Führung hatte deutliche Sympathien für die Trump-Administration. Janša gilt als enger Freund des ungarischen Premiers Viktor Orbán und scheint sein Land auf denselben Weg wie Ungarn führen zu wollen. Auch er greift die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz an, fällt immer wieder durch antisemitische Tweets und Polemik gegen die EU auf. Deutliche Kritik am autokratischen Kurs Janšas kam aus Brüssel besonders vor der Ratspräsidentschaft Sloweniens im zweiten Halbjahr 2021. Seit Kriegsbeginn schickt Tschechien Sonderzüge an die polnisch-ukrainische Grenze Im Juni nun soll Tschechien die Ratspräsidentschaft von Frankreich übernehmen - und präsentiert sich mit einer bürgerlich-konservativen Fünf-Parteien-Regierung, die sich eindeutig westlich und proeuropäisch positioniert und mit Fehlern der populistischen Vorgänger-Regierung unter dem Oligarchen Andrej Babiš aufräumen und Korruption bekämpfen will. Die Solidarität mit der Ukraine ist groß, in der Regierung wie in der Bevölkerung. Zumal Tschechen und Slowaken aus dem Prager Frühling 1968 Erfahrungen mit sowjetischer Besatzung haben. Die Ukraine weiß es zu nutzen: Gleich zu Beginn des Krieges legte die ukrainische Botschaft in Prag ein Spendenprogramm auf. Mit dem Geld sollen mit Hilfe des tschechischen Verteidigungsministeriums Waffen gekauft werden. Außerdem liefert das Land wiederholt militärische Ausrüstung. Bereits seit Kriegsbeginn schickt Tschechien zudem Sonderzüge an die polnisch-ukrainische Grenze, um Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen, mehr als 80 000 sind bereits in Tschechien angekommen. Schon zuvor stellten die Ukrainer die größte Einwanderergruppe in Tschechien dar, die etwa 200 000 Ukrainer sind aus dem dortigen Arbeitsmarkt nicht mehr wegzudenken. Anders als als die Slowakei grenzt Tschechien nicht direkt an die Ukraine, die erste tschechoslowakische Republik zwischen den Weltkriegen aber umfasste auch die heute westukrainische Stadt Uschgorod. Das verbindet die Länder bis heute.