Wednesday, March 16, 2022

Francis Fukuyama: Putin wird die Niederlage seiner Armee nicht überleben – 12 Thesen zum Krieg in der Ukraine

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Francis Fukuyama: Putin wird die Niederlage seiner Armee nicht überleben – 12 Thesen zum Krieg in der Ukraine Francis Fukuyama - Gestern um 17:45 Ich schreibe dies aus Skopje in Nordmazedonien, wo ich seit einer Woche einen Kurs der «Leadership Academy for Development» leite. Den Krieg in der Ukraine von hier aus zu verfolgen, macht keinen Unterschied. Die verfügbaren Informationen sind die gleichen – abgesehen vom Umstand, dass die Zeitzone näher beim Geschehen liegt. Und bis auf die Tatsache, dass Putin auf dem Balkan mehr Unterstützung geniesst als in anderen Teilen Europas. Das liegt vor allem an Serbien und daran, dass das Land das Programm des russischen Nachrichtensenders Sputnik empfängt. Ich riskiere hier etwas und wage ein paar Prognosen: Russland steuert auf eine klare Niederlage in der Ukraine zu. Die russische Planung war inkompetent und basierte auf der fehlerhaften Annahme, dass die Ukrainer Russland wohlgesinnt sind und dass ihr Militär nach dem Einmarsch sofort zusammenbrechen würde. Die russischen Soldaten trugen für ihre Siegesparade in Kiew offenbar Ausgehuniformen mit, und nicht etwa zusätzliche Munition und Rationen. Putin hat zum jetzigen Zeitpunkt den Grossteil seiner Streitkräfte für diesen Feldzug eingesetzt – es gibt keine grossen Reserven, auf die er zurückgreifen und die er in die Schlacht werfen könnte. Die russischen Truppen sitzen ausserhalb ukrainischer Städte fest, wo sie mit enormen Versorgungsproblemen und ständigen ukrainischen Angriffen konfrontiert sind. Der Zusammenbruch ihrer Stellungen könnte plötzlich kommen und katastrophal sein. Es braucht dazu keinen langsamen Zermürbungskrieg. Im Feld wird die Armee an einen Punkt gelangen, an dem sie weder versorgt noch zurückgezogen werden kann, und die Kampfmoral wird verfliegen. Dies gilt zumindest für den Norden der Ukraine; im Süden stehen die Russen besser da, aber diese Stellungen wären schwer zu halten, wenn die nördliche Front zusammenbricht. Eine Beendigung des Krieges durch Diplomatie ist unmöglich, solange der Kollaps der russischen Armee nicht eingetreten ist. Es gibt keinen denkbaren Kompromiss, der sowohl für Russland als auch für die Ukraine akzeptabel wäre, wenn man die Verluste bedenkt, die beide bisher erlitten haben. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat sich wieder einmal als unnütz erwiesen. Das einzig Hilfreiche war die Abstimmung in der Uno-Generalversammlung. Mit der Resolution gegen die russische Aggression mussten Länder Position beziehen, und es wurde klar, wer sich durch Enthaltung herauszuwinden versucht. Die Entscheidungen der Biden-Administration, keine Flugverbotszone auszurufen und bei der Überführung polnischer Kampfflugzeuge nicht zu helfen, waren beide gut. Die Regierung hat in einer Zeit der Gefühlswallungen einen kühlen Kopf bewahrt. Es ist viel besser, wenn die Ukrainer die Russen aus eigener Kraft besiegen, wodurch Moskau die Ausrede abhandenkommt, die Nato habe sie angegriffen. Vor allem würden die polnischen MiG die ukrainische Kampfkraft nicht wesentlich erhöhen. Viel wichtiger ist ein kontinuierlicher Nachschub an Javelins, Stinger, TB2-Kampfdrohnen, medizinischer Versorgung, Kommunikationsausrüstung. Ich gehe davon aus, dass die ukrainischen Streitkräfte bereits von Nato-Geheimdiensten, die von ausserhalb der Ukraine aus operieren, Informationen bekommen. Die Kosten, die die Ukraine zu tragen hat, sind selbstverständlich enorm. Aber der Grossteil der Schäden wird durch Raketen und Artillerie verursacht, gegen die weder MiG noch eine Flugverbotszone viel ausrichten können. Das Einzige, was das Gemetzel stoppen kann, ist eine Niederlage der russischen Bodentruppen. Putin wird die Niederlage seiner Armee nicht überleben. Er erhält Unterstützung, weil er als starker Mann wahrgenommen wird; was hat er noch zu bieten, sobald er seine Unfähigkeit unter Beweis gestellt hat und seiner Machtmittel beraubt ist? Die Invasion hat den Populisten in aller Welt, die vor dem Angriff unisono ihre Sympathie für Putin zum Ausdruck brachten, bereits stark geschadet. Dazu gehören Matteo Salvini, Jair Bolsonaro, Éric Zemmour, Marine Le Pen, Viktor Orbán und natürlich Donald Trump. Die Kriegspolitik stellt ihre bereits bekannten autoritären Tendenzen nochmals ins Rampenlicht. Bis zu diesem Punkt ist der Krieg eine Lektion für China. Wie Russland hat auch China in den letzten zehn Jahren scheinbar hochmoderne Streitkräfte aufgebaut – die jedoch über keinerlei Kampferfahrung verfügen. Die Luftwaffe der Volksbefreiungsarmee wäre wohl ähnlich miserabel wie die Russen, da sie ebenfalls keine echte Praxis im Management komplexer Luftoperationen hat. Es bleibt zu hoffen, dass die chinesische Führung ihre Fähigkeiten nicht wie die Russen völlig überschätzt und an einen Angriff auf Taiwan denkt. Es ist zu hoffen, dass Taiwan selbst aufwacht und die Notwendigkeit erkennt, sich wie die Ukrainer auf den Kampf vorzubereiten. Dazu gehört, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Wir sollten nicht voreilig defaitistisch sein. Türkische Drohnen dürften militärische Bestseller werden. Eine russische Niederlage wird eine «Wiedergeburt der Freiheit» ermöglichen, und sie wird den Blues vom Niedergang der globalen Demokratie vertreiben. Der Geist von 1989 wird weiterleben, dank den mutigen Ukrainern. Der amerikanische Politikwissenschafter Francis Fukuyama lehrt an der Universität Stanford in Kalifornien. Er ist bekannt für sein Buch «Das Ende der Geschichte» (1992). Der vorliegende Text erschien zuerst im von Fukuyama mitgegründeten Magazin «American Purpose». Übersetzung aus dem Amerikanischen von Manuel Müller.