Wednesday, March 16, 2022
Krieg in der Ukraine: Verhandlungen über neutralen Status, Uno fordert Russland zum Angriffsstopp auf
Krieg in der Ukraine: Verhandlungen über neutralen Status, Uno fordert Russland zum Angriffsstopp auf
DER SPIEGEL
Muriel Kalisch - Gestern um 22:00
Während Russland und die Ukraine verhandeln, gehen die Kremltruppen weiter gegen Militär und Zivilbevölkerung vor. Präsident Selenskyj dringt erneut im Westen auf Hilfe. Die Entwicklungen des Tages im Überblick.
Drei Wochen dauert Russlands Krieg gegen die Ukraine bereits an. Drei Wochen, in denen sich die rivalisierenden Truppen Gefechte lieferten, zivile Gebäude bombardiert wurden und zahlreiche Menschen ihr Leben ließen. Auch an diesem 21. Kriegstag wurden Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine geführt, ein 15-Punkte-Plan könnte den Weg Richtung Frieden weisen. Die Entwicklungen des Tages im Überblick.
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Militärische Lage
Der Vormarsch des russischen Militärs im Gebiet der Ukraine stockt offenbar seit einigen Tagen. Im Gegenzug gehen die Kremltruppen Angaben der Ukraine zufolge immer gewaltsamer gegen die Zivilbevölkerung vor. Diese Aussagen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
In Mariupol haben russische Truppen dem Stadtrat zufolge ein Theater bombardiert, in dem Zivilisten Zuflucht gesucht haben. Die Zahl der Opfer sei noch nicht bekannt, teilt der Stadtrat mit. Russland weist den Vorwurf zurück.
Ukrainische Truppen haben nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj im Kriegsverlauf bisher knapp 1000 russische Soldaten gefangen genommen. Diese Zahl nannte der Staatschef der Agentur Ukrinform zufolge bei einem Online-Treffen mit dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan. Selenskyj forderte, alle Verantwortlichen für Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen. »Alle wissen, was passiert. Es gibt die Leute, es gibt bereits bis zu 1000 Kriegsgefangene, es gibt Augenzeugen, es gibt Beweisvideos, alles liegt vor«, sagte Selenskyj.
Russische Truppen haben nach Angaben der ukrainischen Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk in der Hafenstadt Mariupol ein Krankenhaus unter ihre Kontrolle gebracht. 400 Patienten und Mitarbeiter würden als Geiseln gehalten. Die Soldaten hätten auf dem Klinikgelände Artillerie in Stellung gebracht und würden Schüsse abfeuern, sagt die stellvertretende Regierungschefin in einer Video-Ansprache. Ob ein Fluchtkorridor zur Evakuierung weiterer Zivilisten aus der ostukrainischen Stadt diesen Mittwoch geöffnet werden könne, sei fraglich. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Mariupol gehört zu den am heftigsten umkämpften Städten in der Ukraine.
Humanitäre Lage
Wegen des Kriegs in der Ukraine sind nach Uno-Angaben binnen 24 Stunden weitere 90.000 Menschen aus dem Land geflohen. Wie das Flüchtlingshilfswerk UNHCR mitteilte, stieg die Zahl der Geflohenen am Mittwoch um 93.495 im Vergleich zum Vortag an. Seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar sind damit 3.063.095 Ukrainer aus ihrer Heimat geflüchtet.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) ergänzte, dass auch 162.000 Drittstaatsangehörige geflohen seien. Zudem dürften immer noch Millionen Menschen im Land festsitzen oder innerhalb der Ukraine auf der Flucht sein, erklärte die Uno-Organisation.
Bei den Flüchtlingen handelt es sich überwiegend um Frauen, Kinder und ältere Menschen. Laut dem Uno-Kinderhilfswerk Unicef sind etwa die Hälfte der Geflüchteten Kinder.
Die ukrainische Regierung hat vor einer humanitären Katastrophe im von russischen Truppen eroberten Gebiet Cherson gewarnt. »Wegen der vorübergehenden Besatzung fehlt es den Menschen in den Siedlungen, vor allem den kleineren, an Medikamenten und teilweise an Nahrungsmitteln«, schrieb die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Ljudmyla Denisowa, am Mittwoch bei Telegram. »Aufgrund des aggressiven Vorgehens und des Beschusses der russischen Besatzer ist es nicht möglich, Waren aus anderen Regionen der Ukraine zu liefern.« Zudem gebe es Probleme bei der Strom-, Gas- und Wasserversorgung.
Russland hat nach eigenen Angaben das südukrainische Gebiet Cherson rund um die gleichnamige Großstadt komplett besetzt. Aus der Region kommen seitdem immer wieder Berichte, dass russische Truppen proukrainische Lokalpolitiker verschleppt hätten.
Am Mittwoch wurden nach Angaben von Aktivisten der Bürgermeister der Stadt Skadowsk nahe der annektierten Halbinsel Krim, Olexander Jakowlew, sowie Stadtrat Juri Paljuch abgeführt. Vor dem Rathaus demonstrierten zahlreiche Menschen für die Freilassung. Jakowlew meldete sich wenige Stunden später in einem Video. Er sei frei und es gehe ihm gut, die Russen hätten mit ihm nur ein Gespräch geführt. Details nannte er nicht.
Was sagt Kiew?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wandte sich per Videoschalte an die Abgeordneten im US-Kongress und bat die USA eindringlich um Unterstützung.
»Wir brauchen Sie jetzt«, ruft er den US-Kongressabgeordneten per Video-Schaltung zu. »Denken Sie an Pearl Harbor«, sagt Selenskyj und erinnert damit an den Überraschungsangriff Japans auf die US-Pazifikflotte im Dezember 1941. »Wenn Sie an die Ukraine denken, dann erinnern Sie sich an die Angriffe vom 11. September 2001.«
In den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine waren zuletzt optimistischere Töne zu hören. Medienberichten zufolge soll es einen 15-Punkte-Plan geben, ein Mitglied der ukrainischen Delegation wies jedoch darauf hin, dass es sich dabei bislang ausschließlich um einen Vorschlag der russischen Seite handele. Auf Russlands Wunschliste steht, dass für die Ukraine ein »neutraler Status«, ähnlich dem von Österreich oder Schweden ausgehandelt werden solle.
Die Ukraine fordert für eine Verhandlungslösung mit Russland verbindliche Sicherheitsgarantien. Es sei ein festes Abkommen nötig, bei dem eine Gruppe von Staaten Garantien für klar rechtsgültige Verpflichtungen übernehmen müsse, um künftige Angriffe aktiv zu verhindern, sagt der ukrainische Unterhändler Mychailo Podoljak. Ein solches Modell liege auf dem Verhandlungstisch. Podoljak, der auch ukrainischer Präsidialamtsberater ist, reagiert damit auf Äußerungen der russischen Seite, wonach eine Neutralität der Ukraine und eine Entmilitarisierung mit eigener Armee nach dem Beispiel Österreichs oder Schwedens ein Kompromiss für eine Verhandlungslösung sein könnte.
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besteht bei den Verhandlungen mit Russland auf verlässliche Sicherheitszusagen. »Wir können und müssen jetzt kämpfen. Wir können und müssen unseren Staat, unser Leben, unser ukrainisches Leben verteidigen. Wir können und müssen einen gerechten, aber fairen Frieden für die Ukraine aushandeln, echte Sicherheitsgarantien, die funktionieren«, sagt er in einer Video-Ansprache.
Lesen Sie hier mehr über den Stand der Verhandlungen.
Was sagt der Kreml?
Bei einer im russischen Staatsfernsehen übertragenen Rede wandte Wladimir Putin sich mit harten Worten gen Westen.
Russland wolle demnach die Ukraine nicht besetzen. Sein Land habe keine andere Wahl gehabt als diesen militärischen Sondereinsatz. Die Ukraine hätte in absehbarer Zeit Atomwaffen haben können, argumentiert der Präsident, der für den 24. Februar den Beginn der Invasion des Nachbarlandes befohlen hatte. »Die Ukraine hat mit Unterstützung westlicher Mächte eine Aggression gegen Russland geplant.« Der Einsatz in der Ukraine laufe nach Plan.
Putin wirft dem Westen vor, die russische Gesellschaft spalten und das Land zerstören zu wollen. Dies werde nicht gelingen, sagt Putin vor Ministern. »Jedes Volk, und insbesondere das russische Volk, wird immer die wahren Patrioten von dem Abschaum und den Verrätern unterscheiden können, um diese einfach auszuspucken wie eine Mücke, die versehentlich in ihren Mund geflogen ist.«
Er warf dem Westen wegen dessen Sanktionen vor, einen wirtschaftlichen Blitzkrieg gegen Russland zu organisieren. Dieser Versuch werde nicht funktionieren. Die neue Realität erfordere aber tiefgreifende Veränderungen der russischen Wirtschaft. Die Inflation und die Arbeitslosigkeit würden steigen, sagt Putin. »Wir werden diese Fragen angehen.« Steigende Preise würden sich auf die Gehälter der Menschen auswirken. Familien mit Kindern verspricht er Unterstützung. Putin versichert, die Zentralbank werde kein Geld drucken müssen.
Wie reagiert die internationale Gemeinschaft?
Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat Russland angewiesen, seine Militär-Aktivitäten in der Ukraine sofort zu stoppen. »Die Russische Föderation soll die militärischen Operationen unverzüglich einstellen, die sie am 24. Februar 2022 auf ukrainischem Gebiet begonnen hat«, erklären die Richter. Zudem müsse die Regierung in Moskau dafür sorgen, dass andere von ihr kontrollierte oder unterstützte Kräfte diese Operationen nicht fortführten.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schreibt auf Twitter von einem »kompletten Sieg« seines Landes vor dem Gericht und verlangt von Russland, die Anordnung sofort umzusetzen. Eine Stellungnahme der Regierung in Moskau liegt nicht vor.
In Polen haben Staatsanwälte nach Angaben der Regierung Zeugenaussagen aufgenommen, die »spezifische Verbrechen« im Zusammenhang mit Russlands Angriff auf die Ukraine beschreiben. Insgesamt seien bislang mehr als 300 Aussagen erfasst, sagt Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro vor der Presse im Beisein von Karim Khan, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs.
US-Präsident Joe Biden kündigt weitere Hilfen für die Ukraine an. Dazu gehörten Drohnen sowie 800 Luftabwehr-Systeme. Insgesamt belaufe sich die in dieser Woche angekündigte Hilfe der USA für die Ukraine auf eine Milliarde Dollar. Die Aktien des Drohnenherstellers AeroVironment verbuchten nach der Ankündigung an der Wall Street mit einem Plus von gut elf Prozent einen der größten Kurssprünge der Firmengeschichte.