Thursday, January 9, 2025
Militärexperten analysieren Lage - Ukraine kämpft um russischen Boden - doch Putins Truppen haben ein Ass im Ärmel
Militärexperten analysieren Lage - Ukraine kämpft um russischen Boden - doch Putins Truppen haben ein Ass im Ärmel
FOCUS-online-Redakteurin Anna Schmid • 13 Std. • 4 Minuten Lesezeit
Mehrere Medien berichten, die Intensität der Kämpfe in der Region Kursk hätte zugenommen. Inzwischen ist sogar von einem „Showdown“ im Ukraine-Krieg die Rede. Experten sind skeptisch.
Die Lage in der westrussischen Region Kursk ist angespannt. Wie der ukrainische Generalstab vor kurzem auf Telegram mitteilte, toben nach dem Überraschungsangriff der Ukraine weiterhin schwere Kämpfe.
Demnach soll es zuletzt mehr als 200 Kollisionen an allen Frontabschnitten gegeben haben. Von Zusammenstößen mit ukrainischen Einheiten in der Region Kursk berichtete derweil auch das russische Verteidigungsministerium.
Zwar lassen sich die Angaben beider Seiten nicht unabhängig überprüfen. Der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) verwies allerdings in mehreren Analysen auf Geodaten veröffentlichter Aufnahmen, die demnach auf entsprechende Vorstöße hindeuten. Beiderseits.
Russische Truppen sollen demnach in Nikolajewka, das nordwestlich von Sudscha liegt und Machnowka, südöstlich der Kleinstadt, vorgerückt sein. Im Bericht vom 7. Januar war außerdem die Rede von ukrainischen Vorstößen im Norden von Pogrebki.
Thinktank schreibt von „taktischen Vorstößen“
Die neuen Angriffe, die die ukrainische Armee vor wenigen Tagen in Kursk gestartet hat, sorgen weltweit für Aufsehen. Es wird diskutiert, analysiert - und spekuliert, ob das Manöver eine größere Bedeutung hat.
Manche Medien berichten sogar von einem „Showdown“ im Ukraine-Krieg, der sich jetzt anbahnen könnte. Wolfgang Richter, Oberst a. D. und Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP), ist jedoch vorsichtig mit solchen Aussagen.
„Die operative Großlage hat sich trotz einzelner, offenbar erfolgreicher taktischer Vorstöße der Ukrainer nicht grundsätzlich geändert“, sagt der Militärexperte im Gespräch mit FOCUS online.
Er spricht von „Gefechten in Kompanie-, maximal Bataillonsstärke“. Und meint: „Selbst wenn es zu vereinzelten Raumgewinnen von ein paar Kilometern kommt, dürften die Ukrainer nicht genügend Kräfte haben, um die Lage insgesamt zu wenden.“
Entscheidender Vorteil der Russen: Mehr verfügbare Truppen
Das liegt auch daran, dass die Vorstöße in der Region Kursk zu Lasten der Verteidigung an der Donbass-Front gehen. „Dort herrscht akuter Personalmangel, insbesondere bei der Infanterie, der eine entscheidende Rolle in der Verteidigung zukommt“, sagt Richter.
Die Russen, so erklärt es der Verteidigungsexperte, sind seit Monaten auf langsamem, aber stetigem Vormarsch. „Trotz hoher Verluste können sie weiterhin mehr Kampftruppen einsetzen und örtlich die militärische Überlegenheit gewinnen.“
Anfang der Woche mussten die Ukrainer beispielsweise die Ortschaft Kurachowe aufgeben - das zeigen Daten der Open-Source-Intelligence-Plattform DeepState. Die Stadt Pokrowsk wird außerdem zunehmend von den Russen abgeriegelt.
„Die Donbass-Region könnte ins Rutschen kommen“
Eine Beobachtung, die auch aus der aktuellsten Analyse des ISW hervorgeht. Russische Militärblogger behaupten demnach, Moskaus Streitkräfte seien bis an den nordwestlichen Stadtrand von Zvirove südlich von Pokrowsk vorgerückt.
Das ISW beruft sich außerdem auf den Stabsfeldwebel einer ukrainischen Brigade, die in Richtung Pokrowsk operiert. Ihm zufolge soll die russische Armee ihre Angriffsoperationen südlich von Myrnohrad intensiviert und frische Truppen in das Gebiet verlegt haben.
„Wenn die Ukrainer mangels Kräften in Pokrowsk nicht zu einem verstärkten Gegenangriff in der Lage sind, dürfte der Fall der Stadt nur noch eine Frage der Zeit sein“, sagt Richter. „Angesichts ihrer operativen Schlüsselrolle für die Verteidigung des westlichen Donezk-Gebietes könnte dann die Donbass-Front insgesamt ins Rutschen kommen.“
Es gab schon einmal eine ukrainische Offensive in der Region Kursk
Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung kommt Markus Reisner, österreichischer Historiker und Offizier des Bundesheeres im Dienstgrad des Oberst. „Die Lage in Kursk muss man im größeren Zusammenhang betrachten“, sagt er zu FOCUS online.
„Wir wissen, dass mit Beginn der russischen Sommeroffensive im vergangenen Jahr der Druck auf die Ukraine zugenommen hat. Mit dem Manöver in Kursk wollte Kiew Moskau offenbar dazu bringen, Truppen aus der Ostukraine abzuziehen.“ Das hat, so erklärt es Reisner, letztlich nicht funktioniert.
„Die Russen haben in Pokrowsk weitergemacht.“ Dem österreichischen Militärexperten ist wichtig, nicht von einer Offensive der Ukrainer zu sprechen, wenn es um die aktuelle Lage in Kursk geht - sondern von einem „Angriff“.
Moskaus Truppen „haben nachgesetzt und den Vorstoß zum Halten gebracht. Sie sind gerade dabei, die ukrainischen Streitkräfte zurückzudrängen, die kaum Möglichkeiten haben, personell aufzustocken.“ In Reisners Augen nimmt die “Dramatik eines Abnutzungskrieges" zu. Als er neulich mit einem ukrainischen Kameraden telefonierte, sagte der, „die Russen sickern durch wie Wasser“.
Für Kiew geht es um territorialen Faustpfand
Es ist nicht das erste Mal, dass Kiew einen Angriff auf russisches Terrain startet. Im August vergangenen Jahres waren ukrainische Truppen erstmals in die Region Kursk vorgedrungen. Seitdem halten sie Teile des Gebiets besetzt. Die Russen konnten inzwischen rund die Hälfte der Regionen zurückerobern.
Dass die Ukraine einen weiteren Vorstoß auf russischem Gebiet gestartet hat, wundert viele Beobachter auch deshalb nicht, weil einschneidende geopolitische Veränderungen anstehen. Immerhin wird Donald Trump in weniger als zwei Wochen als US-Präsident vereidigt. Der Mann, der angekündigt hat, den Ukraine-Krieg in 24 Stunden zu beenden.
Richter meint, sowohl die Ukraine als auch Russland stehen zunehmend unter Druck, „die militärische Lage zu ihren Gunsten zu verändern“. Jede Seite hat dabei eine ganz eigene Motivation.
Für Kiew, so erklärt es der Militärexperte, geht es um einen territorialen Faustpfand, der „bei etwaigen Verhandlungen als diplomatisches Druckmittel verwendet werden kann“. Moskau wiederum „will das verhindern, zumal aus dem Trump-Lager verlautet, dass der Konflikt zunächst an den aktuellen Frontlinien eingefroren werden soll“.
„Es geht nicht um einen 'Showdown'“
Russland hält laut Richter an seinem militärischen Ziel fest, den Donbass vollständig unter Kontrolle zu bringen. Für den Oberst a. D. ist klar: „Moskau möchte bis zu etwaigen Verhandlungen vollendete Tatsachen schaffen, bevor der Konflikt eingefroren wird.“
Auch in aktuellen Berichten des ISW zum Ukraine-Krieg taucht die Ostukraine immer wieder unter dem Stichwort „russische Hauptanstrengung“ auf. Reisner sagt: „Die Ukraine muss immer wieder zeigen, dass es wert ist, sie zu unterstützen. Russland versucht, das Gegenteil zu erreichen.“
Richters Fazit ist am Ende eindeutig. „ Trotz der politisch motivierten Drucksituation geht es nicht um einen “Showdown", der eine entscheidende militärische Wende im Ukraine-Krieg bringen kann. Dafür fehlt es an räumlicher Tiefe und Kräftegruppierungen von strategischem Ausmaß."