Saturday, January 18, 2025

Die Macht des Alexander Van der Bellen

WELT Die Macht des Alexander Van der Bellen Paul Lendvai • 14 Std. • 5 Minuten Lesezeit Die FPÖ schickt sich in Österreich an, die Regierung zu übernehmen. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat angekündigt, er wolle das Land vor den größten Torheiten bewahren. Das kann er tun, denn im Gegensatz zum deutschen Bundespräsidenten hat er die nötige Macht dazu. Eine Analyse. Alexander Van der Bellen ist seit Januar 2017 österreichischer Bundespräsident. Im Jahr 2022 wurde er für eine zweite sechsjährige Amtszeit wiedergewählt Österreich erlebt politisch turbulente Zeiten voller Wendungen und Windungen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Zweiten Republik könnte mit Herbert Kickl der Vorsitzende einer Rechtsaußenpartei zum Bundeskanzler ernannt werden. Die Ereignisse seit der letzten Nationalratswahl im September, bei der die FPÖ mit 29 Prozent der Stimmen zur stärksten Partei geworden ist, ähneln einer Achterbahn mit Wechselfällen in immer rasanterem Tempo. Die Koalition der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Grünen hat die Mehrheit verloren. Nach dem Scheitern der Verhandlungen der ÖVP, der Sozialdemokraten (SPÖ) und der kleinen liberalen Neos zur Bildung einer Koalition vollzog die Volkspartei eine abrupte Wende weg vom kategorischen Nein, mit der FPÖ zusammenzuarbeiten, hin zu einem Kooperationsangebot und zu der Bereitschaft, als Juniorpartner eine FPÖ-ÖVP-Regierung zu bilden Kommt Kickl an die Macht, ist sie dem selbst ernannten „Volkskanzler“ in den Schoß gefallen, einem Mann, in dessen Weltbild das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht, einem Mann überdies, der im Wahlkampf „das System zu Fall“ bringen wollte. Wenn es trotzdem einen zarten Hoffnungsschimmer gibt, dass mit einem Bundeskanzler Kickl nicht all das Schritt für Schritt verloren geht, was das Wesen der liberalen Demokratie ausmacht, hängt dies mit der Persönlichkeit des österreichischen Staatsoberhaupts Alexander Van der Bellen zusammen, der am Samstag 81 Jahre alt wird, und seiner in der Verfassung verankerten Gestaltungsmacht. Im Wechselspiel mit der Regierung und dem Parlament hat der österreichische Bundespräsident mehr Machtkompetenzen als das Staatsoberhaupt in Berlin. Der vom Volk direkt gewählte Bundespräsident ernennt den Bundeskanzler und auf dessen Vorschlag die Regierungsmitglieder. Er vertritt Österreich nach außen und ist Oberbefehlshaber des Bundesheeres. Besonders wichtig ist, dass er die Beurkundung einzelner Gesetze und Staatsverträge und die Ernennung einzelner Minister ablehnen kann. Dieses Recht hatten Bundespräsident Thomas Klestil im Jahr 2000 und zu Beginn seiner ersten Amtszeit auch der heutige Bundespräsident Van der Bellen in Anspruch genommen. In beiden Fällen ging es um Minister der FPÖ. Die Zahl der Ablehnungen einzelner Regierungsmitglieder ist nicht begrenzt. Der Präsident kann Kandidaten ablehnen Van der Bellen könnte zum Beispiel bei der Besetzung von Schlüsselressorts – Verteidigung, Inneres, Äußeres – den Kandidaten jederzeit ablehnen. Mehr sogar: Der Bundespräsident kann ganze Parteien ablehnen. Auch dies ist in der Geschichte der Zweiten Republik bereits zweimal geschehen: In den 50er-Jahren verweigerten die jeweiligen Bundespräsidenten der rechtsextremen Vorgängerpartei der FPÖ den Zugang zur Regierung. Darüber hinaus kann der Bundespräsident die Regierung auch entlassen oder eine Koalition verweigern. Allerdings kann er das österreichische Parlament, den Nationalrat, nur auf Vorschlag der Regierung auflösen. Verfassungsrechtlich könnte allerdings auch ein von ihm ernanntes Expertenkabinett in einer Ausnahmesituation diesen Schritt gehen. Bundespräsident Van der Bellen hat also zahlreiche Möglichkeiten, eine extreme Regierung zu zähmen. Dass er es im Notfall tun wird, hat er bereits angekündigt. Eine Mehrheit der Österreicher vertraut ihm, sieht in ihm ein fast väterliches Staatsoberhaupt, das sich in Krisen souverän bewährt hat. Als der 1944 in Wien geborene Sohn einer vormals estnischen Familie 2017 in die Wiener Hofburg einzog, hätte niemand gedacht, dass der ehemalige Grünen-Chef und Volkswirt Van der Bellen fortan mit einer in der österreichischen Geschichte beispiellosen Serie von politischen Skandalen, Regierungswechseln und Neuwahlen zu tun haben würde. In der bisherigen Amtsperiode des 2022 für eine zweite sechsjährige Präsidentschaft mit 56 Prozent der Stimmen gewählten Parteilosen wurden sieben Bundeskanzler und insgesamt 125 Minister (einschließlich Landeshauptleute) bei 55 Zeremonien in der Hofburg angelobt (vereidigt). Die Serie präzedenzloser Entscheidungen begann 2017 nach der Veröffentlichung des skandalösen Ibiza-Videos mit dem Sturz der ÖVP-FPÖ-Regierung unter Bundeskanzler Sebastian Kurz. Van der Bellen ernannte daraufhin nicht nur eine Beamtenregierung, sondern zum ersten Mal in der jüngeren österreichischen Geschichte mit der Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes, Brigitte Bierlein, auch eine Bundeskanzlerin. Die Hälfte der Regierungsmitglieder waren Frauen. Das Kabinett regierte 218 Tage zur allgemeinen Zufriedenheit. Ein Erfolg, der auf Van der Bellens entschlossene Besonnenheit zurückzuführen war. Diese Gabe nutzte ihm auch während der Kanzlerschaft von Sebastian Kurz. Nachdem es 2021 zu Ermittlungen gegen Kurz wegen des Verdachts der Korruption, zu Hausdurchsuchungen im Bundeskanzleramt und zu seinem Rücktritt als Bundeskanzler gekommen war, reagierte der Bundespräsident erneut gelassen, ohne zu zögern und mit einer Prise Humor: „Sie fragen mich in diesen Stunden vielleicht: Was ist denn jetzt wieder passiert?“ Auf diese Weise gelang es Van der Bellen zügig, die Öffentlichkeit zu beruhigen. Schließlich erlebe man zwar vielleicht eine Regierungskrise, aber keine Staatskrise. Am 6. Januar beauftragte Bundespräsident Van der Bellen den FPÖ-Vorsitzenden Herbert Kickl mit der Regierungsbildung REUTERS/Leonhard Foeger Ähnlich umsichtig ging er nach der Nationalratswahl 2024 vor, aus der die FPÖ unter Kickl erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik als stärkste Kraft hervorging. Im Gegensatz zur bisherigen Praxis betraute Van der Bellen nicht Kickl als den Vorsitzenden der stärksten Partei mit der Regierungsbildung, sondern den amtierenden ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer, dessen Partei bei der Wahl nur auf den zweiten Platz gekommen war. Van der Bellen begründete diesen Schritt damit, dass keine andere Partei mit der FPÖ regieren wolle. Damit beschritt er erneut einen bisher nicht betretenen Pfad. Auch dies tat er ruhig, bedächtig und überzeugend. Mehr als das: Bravourös nutzte er sämtliche verfassungsmäßigen Möglichkeiten, die sein Amt ihm bieten. Auch als er durch den Kotau der ÖVP dazu veranlasst wurde, doch FPÖ-Chef Kickl mit der Regierungsbildung zu betrauen, ließ der Bundespräsident keinen Zweifel daran, dass er die liberale Demokratie jederzeit schützen und vor Angriffen bewahren werde. Kurzum, Alexander Van der Bellen hat sich in sämtlichen Krisen bisher als ein Glücksfall für Österreich erwiesen. Noch hat er zwei Drittel seiner sechsjährigen Amtszeit vor sich. Er ist der Garant dafür, dass die Zweite Republik nicht abdriftet. Man mache sich nichts vor: Herbert Kickl als Bundeskanzler, an der Spitze einer Rechtsaußenpartei, die in Teilen deutschnational, fremdenfeindlich und antisemitisch ist, bedeutet eine Zeitenwende. Kickls Ziel ist die Abschaffung des verhassten „Systems“. Sie schließt das Vorhaben ein, die „Putinisierung Mitteleuropas“ („Economist“) voranzutreiben. Bundespräsident Van der Bellen ist eine der Kräfte, die ihn aufhalten könnten. Gastautor Paul Lendvai (95) ist der große alte Herr des österreichischen Journalismus und einer der führenden Osteuropaexperten des Kontinents. Lendvai hat zahlreiche Bücher geschrieben. Im vergangenen Jahr erschien seine jüngste Studie „Über die Heuchelei“.