Monday, October 21, 2024

Philippa Sigl-Glöckner: „Die Wachstumsschwäche in Deutschland ist absurd“

Capital Philippa Sigl-Glöckner: „Die Wachstumsschwäche in Deutschland ist absurd“ Artikel von Jannik Tillar • 4 Std. • 5 Minuten Lesezeit Die Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner leitet den Thinktank „Dezernat Zukunft“ Die Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner will für die SPD in den Bundestag. Im Interview erklärt sie, warum sie die Schuldenbremse reformieren würde – und auf welche Ausschüsse sie schielt Capital: Frau Sigl-Glöckner, Ihr neues Buch heißt „Gutes Geld“. Was ist denn bitte „Gutes Geld“ – und was ist „schlechtes Geld“? PHILIPPA SIGL-GLÖCKNER: Geld kommt nicht vom Himmel, sondern ist menschengemacht. Wir bestimmen die Regeln darüber – und das heißt auch, dass wir Geld gestalten können. Für mich ist gutes Geld solches, dass unsere gesellschaftlichen Ziele unterstützt. Und schlechtes Geld ist das Gegenteil – solches, dass diese Ziele eben nicht unterstützt. Das ist sehr abstrakt. Welche gesellschaftlichen Ziele muss Geld denn unterstützen? Viele Menschen haben ein schlechtes Bild von Geld, weil es irgendwie immer zu wenig davon gibt, was wir eigentlich alle brauchen. Gute Schulen, gute Infrastruktur, ein gutes Sozialsystem – all das, worauf sich eine Gesellschaft einigen kann. Ich versuche zu zeigen, dass es hierfür wesentlich mehr Handlungsspielräume gibt. Deswegen heißt das Buch auch „Gutes Geld“ und nicht „Schlechtes Geld“ – weil es mir darum geht, die Optionen aufzuzeigen. Und mit Optionen meinen Sie neue Schulden, um die Wünsche zu finanzieren? Sprich: Die Schuldenbremse muss weg? Im Rahmen der Schuldenbremse ist bereits unglaublich viel möglich. Sie bietet ja recht große Gestaltungsmöglichkeiten, wenn man genauer hinschaut. Es ist aber nicht sinnvoll, die Schuldenbremse in ihrer heutigen Form beizubehalten, weil sie all das, was wir als Gesellschaft wollen, finanziell komplizierter und teurer macht als notwendig. Dann lassen Sie uns auf die Schuldenbremse schauen: Artikel 115 des Grundgesetz besagt, dass wir nur 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung jährlich an neuen Schulden aufnehmen dürfen – unabhängig davon, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Läuft die Wirtschaft schlecht, ist auch mehr möglich. Wir sollten den Artikel 115 unbedingt beibehalten. Eine Regel zur Staatsverschuldung zu haben, ist wichtig. Staatsanleihen ausgeben zu können ist ja ein sehr mächtiges politisches Instrument. Aber die heutige Ausgestaltung des Artikels 115 ist schwierig. Die Zahl 0,35 ist beliebig und hat keinerlei Begründung. Ich würde sie daher durch Kriterien für Schuldenregeln ersetzen, die jede Regierung selbst bestimmen muss. Neuseeland machte das lange so. Und wie könnten diese Kriterien aussehen? Sie sollten mindestens Zweierlei enthalten. Auf jeden Fall gehört das Wort „Nachhaltigkeit“ hinein. Denn Schulden stellen Verbindungen zwischen Generationen her. Unsere Kinder zahlen ja im Zweifel die Zinsen der getätigten Schulden oder tragen die Kosten unterlassener schuldenfinanzierter Investitionen. Deswegen sollte die Finanzpolitik immer die Zukunft im Auge haben. Und zum Zweiten würde ich hineinschreiben, dass sich der Staat für produktive Ausgaben verschulden darf. Das ist eine alte Diskussion unter Ökonomen. Was sind produktive Ausgaben, sprich: Investitionen – und was ist staatlicher Konsum? Ja, aber das ist dann ein Streit auf der Auslegungsebene. Das kann das Grundgesetz nicht regeln. Aktuell versuchen wir mit dem Grundgesetz Details zu regeln – siehe die 0,35 Prozent. Das Grundgesetz regelt aber eigentlich die Grundzüge des Zusammenlebens. Wir schreiben bei der Schuldenbremse Zahlen und Fachbegriffe ins Grundgesetz, in dem es sonst um die Würde des Menschen geht. Die FDP hat die Schuldenquote zum Mantra erklärt. Halten Sie eine Reform überhaupt für realistisch? Man muss beileibe kein FDP-Finanzminister für dieses Mantra sein. Auch sozialdemokratische Finanzminister sollen in der Vergangenheit in der Lage gewesen sein, diese Kennzahl ganz nach oben auf die Agenda zu setzen. Sie reden von Olaf Scholz – der genau wie Sie der SPD angehört. Ich bin ja nicht politisch aktiv geworden, um Cheerleader zu werden, sondern weil ich etwas verändern möchte. Die Schuldenquote ist politisch sehr attraktiv. Deswegen brauchen wir einen mutigen Finanzminister, der sagt, dass wir Gestaltungsspielräume haben und der sich nicht länger hinter gewürfelten Kennzahlen versteckt. Da passt es ja, dass Sie in München-Nord für die SPD bei der nächsten Bundestagswahl kandidieren… Ich fühle mich sehr geehrt, dass Sie mir Großes zuzutrauen scheinen. Für mich geht es um das Direktmandat in München. Das ist möglich und dafür kämpfe ich. Aber das Ressort Finanzen soll es schon sein? Sie waren ja mal für die Weltbank in Liberia. Afrika- und Entwicklungspolitik dürfte Sie also auch interessieren. Ja, ich halte die Reform der deutschen Staatsfinanzen für eines der wichtigsten Projekte unserer Zeit. Erst wenn die gelungen ist, werden wir Afrika vernünftig helfen können. Die Politik wird immer ein Problem mit Entwicklungshilfe haben, wenn gleichzeitig die Straßen im Land verfallen. Das kann man niemandem erklären. Und Sie würden auch für eine Reform der Schuldenbremse plädieren, wenn der Kanzler entgegen den Umfragen Olaf Scholz hieße? Scholz hat sich gerade ganz explizit für eine Schuldenbremsenreform ausgesprochen. Aber unabhängig davon werde ich mich dafür einsetzen, deswegen möchte ich ja in die Politik. Deutschland braucht endlich wieder eine rationale Finanzpolitik. Der ökonomische Zeitgeist ist derweil ein anderer. Die meisten Ökonomen sprechen sich in der aktuellen Krise vor allem für bessere Rahmenbedingungen aus. Also: weniger Bürokratie, steuerliche Anreize für Investitionen – aber: nicht für neue Schulden oder Subventionen, um die Konjunktur wiederzubeleben. Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass wir bessere Rahmenbedingungen brauchen. Die brauchen wir auch. Teilweise sind mir die Argumente gegen aktive Industriepolitik aber zu platt. In neuen Industrien fehlen häufig die notwendigen Größenvorteile, die die Firmen erst ab einer gewissen Schwelle profitabel machen. Im Buch vergleiche ich das mit einem Gebirge, das eine Firma überqueren muss. Dazwischen kann die Firma in die Schlucht fallen oder die Orientierung verlieren, wenn sie keinen Bergführer dabei hat. Aber braucht denn ein Weltkonzern wie Intel einen Bergführer, der ihnen 10 Mrd. Euro für eine Ansiedlung geboten hat? Nein, speziell Intel haben wir in uns beim Thinktank „Dezernat Zukunft“ angeschaut. …für den Sie als Gründungsdirektorin noch immer aktiv sind… Ja, und im Endeffekt konnten wir die Entscheidung für Intel nicht nachvollziehen. Mit 10 Mrd. Euro könnten wir unsere Schulen vergolden. Für mich ist die entscheidende Frage: Wie sieht eine Wirtschaftspolitik aus, die dazu führt, dass Geschäftsmodelle in Deutschland dauerhaft aufgehen – und nicht ständig bezuschusst werden müssen? Und wie ist Ihre Antwort darauf? Kurzfristige Maßnahmen wie Prämien oder Netzentgelte, die für ein halbes Jahr gesenkt werden, bringen wenig. Das verändert keine Investitionsentscheidung. Was wir brauchen, ist Stabilität, so dass sich Unternehmen für mehrere Jahre auf Zusagen verlassen können. Unternehmen werden nicht groß investieren, wenn die Bundesregierung ständig Prämien streicht und wieder einführt. Das müssen wir verstetigen. Das sind alles langfristige Maßnahmen. Politik ist aber von kurzfristigen Erfolgen abhängig. Und kurzfristig haben wir eine Wachstumsschwäche. Wie sieht Ihre Lösung hierfür aus? Diese Wachstumsschwäche ist etwas absurd, wenn man mal überlegt wie viel eigentlich gerade zu tun wäre. Wir müssen die öffentliche Infrastruktur generalüberholen und unsere Wirtschaft innerhalb kürzester Zeit auf eine CO2-neutrale Produktion umstellen. Ich würde damit anfangen, die nötigen öffentlichen Investitionen zu tätigen, die Straßen und Schulen zu sanieren. Und dann würde ich schauen, wie wir dekarbonisierte Geschäftsmodelle möglichst schnell rentabel machen. Dazu können Investitionsprämien sinnvoll sein, aber auch europäisch koordinierte Investitionen in das Energiesystem wären wichtig. Die sorgen dafür, dass der Strom so günstig wird, wie nur irgend möglich. Würden Sie einen Industriestrompreis befürworten? Nur unter der Bedingung, dass die Politik einen Plan hat, wie sie dauerhaft für niedrige Stromkosten sorgen kann. Das gelingt, wenn sich Europa zu Nutze macht, dass es Windstrom aus Skandinavien und Solarenergie aus Südeuropa bekommen kann. Mit deutschen Alleingängen kommen wir nicht weiter.