Thursday, December 14, 2023

Ukraine: Ein Krieg zum Durchdrehen

FR Ukraine: Ein Krieg zum Durchdrehen Artikel von Dmitri Durnjew • 3 Std. Ukraine-Krieg Das Sibirische Bataillons der ukrainischen Armee bei einer Gefechtsübung. In der Ukraine macht sich die Angst bereit, dass der Westen das land hängen lassen wird. Dabei wird allenthalben bilanziert, dass das Kriegsjahr 2023 nicht so schlecht gelaufen ist. Kiew begann 2023 mit knatternden Dieselaggregaten für Notstrom. Vergangenen Winter attackierten russische Raketen fast allnächtlich die Stromwerke der Ukraine, immer wieder fielen Licht, Heizwärme und Wasser aus. Russlands Fernsehen triumphierte, man bombe die Ukraine zurück ins Mittelalter. Damals gelang es nicht, die Moral der Ukrainer zu brechen. „Wir werden siegen“, versicherte eine Kiewerin, die sich bei Luftalarm in ein unterirdisches Einkaufszentrum geflüchtet hatte. „Weil wir in diesem Krieg auf der Seite des Lichts stehen.“ Russlands Raketenoffensive scheiterte, weil der Westen moderne Luftabwehr lieferte. Und die notorisch ungenauen russischen Marschflugkörper trafen statt Heizwerken öfter Wohnhäuser, wie die „Raduga Ch-22“, die im Januar in Dnipro 45 Menschen in einem Plattenbau tötete. Auch in zweiten Kriegsjahr nahm Russland wenig Rücksicht auf Zivilbevölkerung oder eigene Soldaten. Die Kämpfe um das strategisch unwichtige Bachmut im Donbass gerieten zur Zermürbungsschlacht, nach denen von Bachmut nicht mehr viel übrig war. Russische Infanterie, oft im Gefängnis rekrutierte Straftäter, musste unter schwersten Verlusten angreifen, um die feindlichen Stellungen für die eigene Artillerie auszukundschaften. Nach neun Monaten Abnützungsschlacht und erbitterten Straßenkämpfen gelang es im Mai der Söldnertruppe „Wagner“, die ukrainischen Verteidiger zu verdrängen. Aber das kostete über 20 000 Tote und doppelt so viele Verwundete. Söldnerchef Jewgenij Prigoschin zog die Reste seiner Truppe ab, begann Ende Juni aus Wut über die Armeeführung eine Meuterei, brach sie aber wieder ab, „Wagner“ wurde quasi aufgelöst, Prigoschin starb im August unter ungeklärten Umständen eines Flugzeugabsturzes. Die ukrainische Seite war schon Anfang Juni zum Gegenangriff vorgegangen – vornehmlich von den Regionen Saporischjscha und Donezk aus nach Süden in Richtung Asowsches Meer. Im besten Fall wollte man die russische Landbrücke vom Donbass zur Krim durchtrennen und den Feind vom Dnipro-Ufer auf die Krim zurückdrängen. Aber die ukrainischen Angriffe blieben in den inzwischen tief gestaffelten russischen Verteidigungslinien stecken. Mit bis zu fünf verschiedenen Minen auf einem Quadratmeter und einer Tiefe von bis zu 30 Kilometern ist dort eine der größten Minenkonzentrationen der Kriegsgeschichte. Die ewig im Westen diskutierte Frühlingsoffensive verschob Kiew schließlich auf Juni, in Erwartung neuer Waffen aus den USA und von der EU. Aber die kamen verspätet und nur in kleinen Stückzahlen, Deutschland etwa lieferte 18 „Leopard 2“ und 30 veraltete „Leopard 1“. Zu wenig, zu spät. Später kritisierten US-Fachleute, dass die Ukrainer außer im Süden auch bei Bachmut angriffen, also zuviel wollten. Aber ohne die erst später gelieferten ATACMS-Raketen wäre es so oder so nicht möglich gewesen, die russische Militärinfrastruktur hinter der Front zu zerstören. Und angesichts noch nicht gelieferter F-16-Kampfjets dominiert Russland mit elf Mal mehr Düsenjets weiter den Luftraum über der Front. Eine konventionelle Offensive ohne Luftüberlegenheit gilt generell als zum Scheitern verurteilt. „Man wird diesem Kriegsjahr nicht gerecht, wenn man die Debatte auf den mangelnden Erfolg des Gegenangriffs reduziert“, wendet der Experte Melnyk ein. „Es ist schon ein enormer Erfolg, dass die Ukraine so gut wie keinen Boden und der Feind keines seiner Ziele erreicht hat.“ Die Ukraine verzichtete auf massive Angriffe durch Infanterie, was ihre Verluste in Grenzen hielt. Und bis Oktober besaß sie dank westlicher Hilfe genug Artilleriemunition, um viermal soviel feindliche Geschütze zu vernichten, wie sie selbst verlor. Die ersten ATACMS setzte sie erfolgreich gegen russische Feldflugplätze ein, aber auch gegen die Schwarzmeerflotte in Sewastopol. Es sei so auch gelungen, die angekündigte Seeblockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen zu verhindern, sagt Melnyk. Was plant Biden? Jetzt unternimmt das russische Militär nach Bachmut bei der Donezker Vorstadt Awdijiwka Massenangriffe. Die ukrainischen Truppen halten die Front, obwohl es ihnen wieder an allem mangelt; von einer Million Artilleriegranaten, die die EU für dieses Jahr versprach, sind weniger als die Hälfte angekommen. Die Russen erlitten laut US-Geheimdienstquellen bei Awdijiwka allein Anfang Oktober 13 000 Tote und Verwundete. Demnach betragen die russischen Gesamtverluste inzwischen 315 000 jener 360 000 Mann und 2200 jener 3100 Panzer, mit denen Putin seinen Feldzug im Februar 2022 begann. Dass die Militärhilfen, die mit Joe Bidens 60-Milliarden-Paket verbunden sind, von den Trump-Republikanern im US-Kongress aufgehalten, lässt viele in Kiew in Paranoia verfallen: Biden selbst wolle eine Eskalation nach einer russischen Niederlage verhindern. US-Militärs sollen nun schon den Ukrainern vorschlagen, 2024 nur ihre Stellungen zu behaupten. Die Ukraine ist Mangel gewohnt. „Wir haben keine ,Javelin‘-Panzerraketen, keinen einziger Schützenpanzer. Die Leute drehen in den Stellungen durch“, beschwerte sich schon im Mai ein ukrainischer Kompaniechef. „So einen Krieg will ich nicht führen.“