Thursday, December 14, 2023

„Komplette Unterordnung. Man muss Tag und Nacht zur Verfügung stehen“

WELT „Komplette Unterordnung. Man muss Tag und Nacht zur Verfügung stehen“ Artikel von Nicolas Walter • 6 Std. Als junge Studentin geriet Sophie Reinisch in die christliche Sekte Shincheonji aus Südkorea, die ihre Anhänger auf das Ende der Welt vorbereiten will. In Deutschland gewinnt sie seit Jahren an Zulauf. Hier berichtet die Aussteigerin Reinisch vom Innenleben der apokalyptischen Gruppierung. Sophie Reinisch stieg aus der südkoreanischen christlichen Sekte Shincheonji aus privat Es begann unverfänglich in einem Frankfurter Einkaufszentrum. Die 23-jährige Sophie Reinisch wurde von einer jungen Frau angesprochen und darum gebeten, ihr Feedback zu einem wichtigen Vortrag für eine Bibelschule zu geben. Das könne jedoch nicht an Ort und Stelle geschehen, sondern müsse bei einem weiteren Treffen stattfinden. „Ich fand sie lieb und habe mir nichts Böses dabei gedacht“, schildert sie diese erste Begegnung. Fortan traf sich Reinisch regelmäßig mit ihrer neuen Bekannten und wurde von ihr schließlich zum Besuch eines Bibelkurses überredet. Gemeinsames Singen, Abendessen und Bibelkunde klangen für die religiös aufgewachsene Studentin spannend. Und das war es für sie auch anfangs. Reinisch war von der Gemeinschaft, die sich vor allem aus jungen, internationalen Leuten zusammensetzt, angetan. Doch nach und nach wurde das neue Hobby zur Vollzeitbeschäftigung: Aus den zwei Stunden an vier Abenden in der Woche wurden schnell sechs Stunden täglich. „Shincheonji verlangt komplette Unterordnung. Man muss Tag und Nacht zur Verfügung stehen, Berichte darüber abgeben, wie viel missioniert wurde und was für Erkenntnisse einem gekommen sind. Das alles hat mir langsam den Hals zugeschnürt“, berichtet die heute 29-Jährige. Ihre Schilderungen decken sich mit denen anderer Aussteiger, über die in den vergangenen Jahren berichtet wurde. Shincheonji, was übersetzt „Neuer Himmel, neue Erde“ bedeutet, ist eine christliche Sekte aus Südkorea, die in den vergangenen Jahren auch in Deutschland immer mehr Zulauf gefunden hat. Experten gehen von etwa 3000 Mitgliedern bundesweit aus und warnen zugleich vor dem starken Schwarz-weiß-Denken der Gruppierung. Sie sehen ihre Religion als „einzig wahrhafte“ Oliver Koch, Weltanschauungsbeauftragter im Zentrum Oekumene der evangelischen Kirchen in Hessen, berät Menschen, die Kontakt mit sogenannten Neuen Religiösen Bewegungen haben. „Dem Verständnis von Shincheonji nach sind sie die einzig wahrhafte Religion. Alle anderen Glaubensgemeinschaften gehören dem Teufel an und müssen missioniert werden“, so Koch. Kritik an der Organisation oder dem Glaubensbild werde nicht zugelassen. Mitglieder würden etwa dazu aufgefordert, keine Zeitungsartikel über Shincheonji zu lesen. Oliver Koch, Weltanschauungsbeauftragter im Zentrum Oekumene der evangelischen Kirchen in Hessen Dagmar Brunk Er berichtet, dass die Anzahl der Anfragen an seine Beratungsstelle zu Shincheonji in den vergangenen Jahren stetig auf bis zu 80 Fälle pro Jahr gestiegen sei. In der Corona-Pandemie und damit einhergehenden Online-Bibelkursen sei die Zahl dann drastisch eingebrochen. Aktuell steige sie wieder, in diesem Jahr habe es bereits 50 Anfragen gegeben. In Frankfurt am Main befindet sich zugleich der größte Standort von Shincheonji in Deutschland; weitere sind unter anderem in Berlin, Stuttgart, Essen und Hamburg bekannt. Oliver Koch erzählt, dass neben Aussteigern auch Familien zu seiner Beratungsstelle kämen, deren Angehörige sich der Gruppierung angeschlossen und daraufhin den Kontakt zu ihnen abgebrochen hätten. Seit mehreren Jahren versuche er nun bereits, persönlich mit Shincheonji Kontakt aufzunehmen, um über diese Probleme zu sprechen. Doch alle Anfragen seien bisher abgelehnt worden. Der Anführer von Shincheonji heißt Lee Man-hee, lebt in Südkorea, ist 92 Jahre alt und möchte eigenen Aussagen zufolge seine Anhängerschaft auf das „Ende der Welt“ vorbereiten. Er und seine Anhänger halten sich für unsterblich. In Deutschland verschleiert die Gruppe ihren Namen potenziellen Mitgliedern meist lange Zeit. Auch Sophie Reinisch berichtet, selbst im Bibelkurs sei ihr nie gesagt worden, dass es sich um Shincheonji handele. „Der Name wird von der Gruppe nicht an die große Glocke gehängt. Im Grunde wird er so lange hinausgezögert, bis sie sich sicher sein können, dass man voll und ganz hinter der Lehre steht und dann nicht mehr abspringt“, sagt sie. Erst durch eigene Recherchen im Internet sei sie auf den Namen Shincheonji gestoßen. In der Öffentlichkeit trete die Gruppe meist unter Tarnnamen wie „Deutschland Zion Gemeinde“ oder „International Peace Forum“ auf, sagt auch Oliver Koch. Sophie Reinisch stieß die Nennung der Tarnorganisationen vor allem auf, als sie selbst zum Anwerben von Bibelkurs-Teilnehmern geschickt wurde. „Das fühlte sich an wie Lügen.“ Prüfungsdruck trotz Krankheit Gerne würde WELT mit Shincheonji über die Vorwürfe sprechen. Ein Sprecher von Shincheonji Frankfurt teilt jedoch am Telefon mit, dass man sich in den Medien häufig falsch dargestellt sehe und die Thematik rund um die Glaubensgemeinschaft „schwierig und komplex“ sei. Fragen zu beantworten, ohne dass Journalisten weiteren Kontext und Hintergrundwissen besitzen würden, sei nicht zielführend. Der Sprecher teilt weiter mit: „Kritik kann und darf es gerne jederzeit geben, und gerne stehen wir hierzu Rede und Antwort. Allerdings nur, wenn aufgrund der Komplexität dieses Themas eine objektivere Gesprächsebene besteht, als sie momentan gegeben ist.“ Was er genau damit meint, bleibt offen. Sophie Reinisch habe der ständige Druck zunehmend zugesetzt, sagt sie. Vor allem die regelmäßigen Prüfungen, in denen das erlernte Wissen abgefragt wurde, seien anstrengend gewesen. Selbst als sie krank gewesen sei, sei sie dazu gedrängt wurden, an einer Prüfung teilzunehmen. Aufgrund der mentalen Belastung habe sie sich nach rund zwei Jahren schließlich für den Ausstieg entschieden. „Dann wird man plötzlich wieder mit Liebe zugeschüttet“, erzählt sie über Versuche, sie zum Bleiben zu bewegen. Doch ihr Entschluss stand fest. Kurzzeitig habe sie danach gar das Gefühl gehabt, auf der Straße verfolgt zu werden. Kontakt zu ihren ehemaligen Weggefährten habe sie nicht mehr. Den Mitgliedern sei die Kontaktaufnahme mit Personen, die sich aktiv gegen Shincheonji entschieden hätten, verboten. „Auf diesem Wege sollen Aussteiger zur Rückkehr bewegt werden“, sagt sie. Oliver Koch befürchtet, dass sich die Gruppierung in den kommenden Jahren aufgrund des Glaubens an die Unsterblichkeit im Zusammenhang mit ihrem hochbetagten Anführer weiter radikalisieren könnte. „Ich kann die Zukunft nicht voraussagen, aber wir machen uns durchaus Sorgen darüber, was passiert, wenn Lee Man-hee stirbt. Meiner Erfahrung nach sind viele Shincheonji-Mitglieder hochfanatisch – und wenn dann plötzlich das Glaubensbild zusammenbricht, auf dem alles basiert, dann könnte das problematisch werden.“