Saturday, December 9, 2023
„Dürfen nicht zusehen, wie die Regierung das Land auf den Abhang zusteuert“
WELT
„Dürfen nicht zusehen, wie die Regierung das Land auf den Abhang zusteuert“
Artikel von Nikolaus Doll •
14 Std.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) rechnet mit dem Kurs des Kanzlers ab: Für den Umbau der Energieversorgung würden Milliarden versenkt – mit magerem Ergebnis. Auch in der Migrationskrise müsse umgesteuert werden, um die Stimmung im Land zu drehen. Man müsse ran ans Grundgesetz.
Michael Kretschmer (CDU), 48, Ministerpräsident von Sachsen
WELT AM SONNTAG: Herr Kretschmer, 2024 ist nicht nur das Jahr der Europawahl, sondern es stehen auch im Osten drei Landtagswahlen an. Die AfD, die gerade in Ihrem Bundesland als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft wurde, liegt in Ostdeutschland nach jüngsten Umfragen bei 32 Prozent, die CDU kommt auf 24 Prozent. Droht die Unregierbarkeit des einen oder anderen Bundeslandes?
Michael Kretschmer: Ein großes Engagement aus der bürgerlichen Mitte kann verhindern, was mathematisch möglich wäre. Eine stabile Regierung ist die Voraussetzung für strategische Politik und Wohlstand.
WELT AM SONNTAG: Wie kann man verhindern, dass die AfD weiteren Zulauf erhält?
Kretschmer: Gut regieren, gut kommunizieren. Ich finde es schon frappierend, dass nach dem Sieg des AfD-Kandidaten im ersten Wahlgang bei der Landratswahl im thüringischen Sonneberg die Medien exakt die Gründe dafür beschrieben haben: die Kritik an der Migrations- und Energiepolitik, am Heizungsgesetz, am Kurs Deutschlands im Ukraine-Krieg, an einer übergriffigen Politik, die die Menschen bevormundet. Dazu kommt die Tatsache, dass der ländliche Raum keine Rolle für die Ampel-Koalition spielt.
Nach der großen Aufregung wird in Berlin weiterregiert, als wäre nichts passiert. Wenn die Ampel so weitermacht, werden wir dies 2024 bei der Europawahl spüren.
WELT AM SONNTAG: Selbst wenn die Koalition jetzt umsteuert, ändert sich doch grundlegend nichts mehr bis zu den Landtagswahlen. Die großen Herausforderungen lassen sich doch nicht kurzfristig meistern, um damit die Stimmungen im Osten zu drehen.
Kretschmer: Das stimmt nicht. Wir haben gesehen, dass beispielsweise die Rücknahme der Gaspreisumlage sofort zu einem Stimmungsumschwung geführt hat. Schlagartig hörten die Demonstrationen auf. Das war wie das Öffnen eines Ventils. Wenn die Bundesregierung jetzt zeigen würde, dass sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts respektiert und danach handelt, wenn sie umsteuert bei der Migrations- oder Energiepolitik, könnte das die Stimmung grundlegend ändern.
Die Leute, die jetzt AfD wählen oder sagen, dass sie es tun würden, sind nicht alle Rechtsextreme. Die meisten sind Protestwähler aus dem Mittelstand, die wir wieder in die demokratische Mitte holen müssen.
WELT AM SONNTAG: Für viel Unmut sorgt auch die Haushaltskrise. Finanzminister Christian Lindner (FDP) sperrt sich dagegen, auch für 2024 eine Notlage zu erklären und damit die Spielräume im Bundesetat zu vergrößern. Aber haben wir nicht längst eine Notlage?
Kretschmer: Das Grundgesetz sieht vor, dass eine Notlage beispielsweise bei einer Flut wie im Ahrtal oder anderen Naturkatastrophen erklärt werden kann. Die jetzige Situation ist allerdings keine Naturkatastrophe, sondern sie ist politisch verschuldet. Die Bundesregierung hat zwei Jahre eine falsche Wirtschaftspolitik betrieben. Nun schmieren die Unternehmen ab, und die Sozialkosten explodieren. Dadurch ist der gesamte Bundeshaushalt in einer Schieflage.
Wenn wir jetzt die wirtschafts- und finanzpolitische Richtung nicht grundlegend ändern, ist jeder Euro, den wir in den Haushaltstopf werfen, sinnlos und erzeugt nichts anderes als immer höhere Schulden.
WELT AM SONNTAG: Das Haushaltsloch von vielen Milliarden und eine Notlage würden es erlauben, die Schuldenbremse zu lockern. Wie stehen Sie dazu?
Kretschmer: Ich habe schon einmal ein sozialistisches Experiment erlebt, bei dem durch eine völlig falsche Wirtschaftspolitik ein Land ruiniert worden ist. Mit staatlichen Subventionen und riesigen Sozialleistungen hatte die DDR versucht, das zu kaschieren. Es ging schief. Ich bin heilfroh, dass das Bundesverfassungsgericht der geplanten Verschuldung der Bundesregierung unmissverständlich einen Riegel vorgeschoben hat.
WELT AM SONNTAG: Wo würden Sie sparen?
Kretschmer: Da gibt es viele Möglichkeiten. Entscheidend ist, dass wir wirtschaftliche Dynamik erzeugen. Und das nicht mit Subventionen, sondern mit Freiheiten. Es ist ein völlig falsches Herangehen, Politik als das Ausgeben von Geld anzusehen. Weniger Einschränkungen beim Arbeitsrecht, weniger Dokumentationspflichten und die Absenkung überzogener Standards beispielsweise beim Bau – so entsteht Wirtschaftswachstum, und die Staatseinnahmen steigen.
Nicht dazu gehören unter anderem ein höheres Bürgergeld oder 5000 zusätzliche Beschäftigte, die die Kindergrundsicherung betreuen. Zudem müssen wir hinterfragen, ob wir weiterhin pro Jahr rund 50 Milliarden Euro für Migrationskosten ausgeben können.
WELT AM SONNTAG: Sie haben unlängst gesagt, die Union stehe bereit, mit der Ampel-Koalition über „Veränderungen“ der Schuldenbremse zu sprechen. Was haben Sie damit gemeint?
Kretschmer: Wir dürfen als CDU nicht zusehen, wie diese Bundesregierung das Land auf den Abhang zusteuert. Wenn es der Koalition ernst damit ist umzusteuern, auch zu sparen, werden wir konstruktiv daran mitwirken.
WELT AM SONNTAG: Was meinten Sie damit konkret?
Kretschmer: Ich möchte, dass wir den Pakt für Deutschland, den uns der Bundeskanzler am 6. September vorgeschlagen hat, wirklich eingehen. Die Union steht dazu bereit. Dafür muss sich die Bundesregierung ehrlich machen und eingestehen, welche Fehler zu einer solchen Schieflage geführt haben. Als Erstes muss dabei die Energiepolitik auf die Agenda.
WELT AM SONNTAG: Wir sind gerade beim Haushalt.
Kretschmer: Das hängt alles miteinander zusammen. Der Haushalt fliegt uns auch deshalb um die Ohren, weil die Energiewende der Ampel gescheitert ist. Wir versenken Milliarden in den Umbau der Energieversorgung, und das Ergebnis ist mehr als mager. Wir brauchen eine grundlegende Überarbeitung der Energiepolitik. Das Ziel muss sein: Die Preise müssen runter. Preiswerte Energie ist die Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit.
Die CDU steht zur Verfügung, über die vorhandenen Atomkraftwerke zu sprechen, über die Braunkohle und darüber, wie wir in den kommenden Jahren Alternativen zu russischem Gas erschließen. Wir sind bereit zu Gesprächen über die Nutzung von heimischem Gas und natürlich über den Ausbau der erneuerbaren Energien. In dieser Situation sollte die Ampel endlich auf Grün schalten.
WELT AM SONNTAG: Der Kanzler hat klar signalisiert, dass er keinen Pakt mit der Union will.
Kretschmer: Nun, er ist der Bundeskanzler und auf dem Papier verfügt er über eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Allerdings wird auch er nicht länger die Augen davor verschließen können, dass die Ampel-Politik zu Wohlstandsverlust führt, zur Abwanderung von Unternehmen, zu beschleunigter Deindustrialisierung und zur Spaltung der Gesellschaft.
Die De-facto-Absage von Olaf Scholz an einem gemeinsamen Deutschlandpakt war vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Jetzt haben wir eine andere, eine deutlich angespanntere Lage. Durch Einsparungen muss ein Milliardenloch gestopft werden. Vorschläge zur Bewältigung haben wir in der CDU genug: Wenn beispielsweise eine Million mehr Bürgergeldempfänger arbeiten würden, könnten pro Jahr 30 Milliarden Euro gespart werden. Für Maßnahmen, die dazu führen, stehen wir bereit, aber nicht dafür, die Schuldenbremse aufzuweichen.
WELT AM SONNTAG: Wie wollen Sie eine Million Empfänger des Bürgergelds in Arbeit bringen?
Kretschmer: Wer nicht arbeiten kann, soll selbstverständlich Unterstützung vom Staat bekommen. Wer es aber kann, soll keine oder allenfalls stark gekürzte Leistungen erhalten. Außerdem muss die Schere zwischen Mindestlohn und Bürgergeld wieder deutlich größer werden.
WELT AM SONNTAG: Durch einen höheren Mindestlohn oder geringere Bürgergeldsätze?
Kretschmer: Durch beides. Bislang hatte eine Mindestlohnkommission die Sätze festgelegt, bis die Ampel eingegriffen und das Verfahren parteipolitisch ausgerichtet hat. Das war ein Fehler, der korrigiert werden sollte. Die Kommission muss ohne Einflussnahme durch die Bundesregierung arbeiten können.
Es stellt sich auch die Frage, ob Migranten, die zu uns kommen, aber nur geringqualifiziert sind, auch unterhalb der Mindestlohnsätze beschäftigt werden können. Mit der Möglichkeit aufzustocken. Und natürlich ist die Erhöhung des Bürgergelds Gift. Ich bin mit Finanzminister Christian Lindner völlig einer Meinung, dass es diese Erhöhung nicht geben darf.
Von den ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland arbeiten 19 Prozent. In anderen EU-Ländern sind es 60 bis 70 Prozent. Wir haben insgesamt vier bis fünf Millionen Bürgergeldempfänger, aber gleichzeitig 700.000 offene Stellen, die nicht besetzt werden. Da merkt doch jeder, dass da was nicht stimmt.
WELT AM SONNTAG: Sollten Flüchtlinge aus der Ukraine weiter Bürgergeld bekommen?
Kretschmer: Dazu hatte Sachsen immer eine kritische Einstellung. Spätestens jetzt ist klar, dass das geändert werden muss. Wer neu aus der Ukraine zu uns kommt, sollte keine Leistungen mehr auf Basis des Bürgergelds erhalten. Das ist ein Fehlanreiz. Auch dieser sogenannte Job-Turbo ist absurd. Warum sollten sich Menschen beispielsweise aus der Ukraine anders verhalten als Deutsche? Ich mache den Ukrainern keinen Vorwurf, dass sie staatliche Hilfe beanspruchen. Deutschland muss seine Regeln ändern. So wird das nichts mit Deutschland als Zuwanderungsland.
WELT AM SONNTAG: Welche weiteren Maßnahmen wären nötig, um die Migrationskrise in den Griff zu bekommen?
Kretschmer: Das Thema ist so sensibel wie die Energieversorgung. Deshalb brauchen wir einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz. Ich schlage eine Migrations-Kommission vor, die nicht parteipolitisch ausgerichtet ist. Sie sollte in erster Linie klären, wie Deutschland wieder in die Lage versetzt werden kann, selbst zu bestimmen, wie viele Menschen ins Land kommen. Dazu gehört, dass Menschen, die mit einem Touristen- oder Arbeitsvisum einreisen, nicht nachträglich Asyl beantragen können. Aber auch eine Absenkung der Sozialleistungen und ein effektiverer Schutz unserer Außengrenzen.
Eine Ausweitung des Familiennachzugs, wie ihn jetzt die SPD fordert, ist das Gegenteil von dem, was der Kanzler suggeriert. Wir müssen über die Dimensionen von Familiennachzug und freiwilliger Aufnahmekontingente reden und letztendlich eine Obergrenze für Zuwanderung definieren. Für all das wird man das Grundgesetz ändern müssen. Und das kann die Ampel nicht ohne die CDU.
WELT AM SONNTAG: Wo liegt diese Obergrenze?
Kretschmer: Diese Grenze ist definiert durch die Kapazitäten bei Wohnraum, Kita- und Schulplätzen. Das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der aktuellen Pisa-Umfrage hat auch etwas mit der massiven Aufnahme von Flüchtlingskindern zu tun. Für die erfolgreiche Bildung von Menschen ohne Deutschkenntnisse und geringer Vorbildung braucht es mehr Assistenzkräfte und andere Formen der Beschulung.
WELT AM SONNTAG: Die Grenzkontrollen mit dem Ziel zur Verringerung der Migration sind aufwendig und widersprechen dem Geist von Schengen. Halten Sie sie dennoch für sinnvoll?
Kretschmer: Es ist bitter, aber sie sind nötig und ein großer Erfolg. Inzwischen kommen in Görlitz nicht mehr 100 bis 150 Menschen pro Tag an, sondern vielleicht zehn. Im Zuge dieser Kontrollen wurden Waffen sichergestellt, Schmuggler überführt, steckbrieflich gesuchte Personen festgenommen, Menschen, die so einfach nicht ins Land dürfen. Natürlich ist ein grenzenloses Europa schön, aber angesichts der aktuellen Lage muss auch klar sein, dass Länder wie Rumänien oder Bulgarien jetzt keinesfalls dem Schengen-Raum beitreten können.