Thursday, December 14, 2023

Der Realitätsverlust: Die Ampel verliert vor innerer Zerrissenheit die Menschen aus dem Blick

Tagesspiegel Der Realitätsverlust: Die Ampel verliert vor innerer Zerrissenheit die Menschen aus dem Blick Artikel von Julius Betschka • 4 Std. Der Haushaltskompromiss ist nur das jüngste Beispiel dafür, warum das Regierungshandeln der Ampel unaufrichtig wirkt. Damit mischt sie den Treibstoff für Wahlerfolge der AfD selbst an. Bundeswirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck gemeinsam mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, M.) und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP, r.). Das Leben vieler Menschen im Land wird teurer werden. Verantwortlich dafür ist nicht der Lauf der Welt oder höhere Gewalt. Es sind die politischen Entscheidungen der Bundesregierung zur (vorläufigen) Lösung der Haushaltskrise. Die Koalition hat auf Druck der Liberalen entschieden: Die Menschen im Land müssen dafür zahlen, dass die Bundesregierung Deutschlands ohnehin niedrige Schuldenquote weiter senken will. Die Ampel mischt so den Treibstoff für kommende Wahlerfolge der AfD selbst an – und merkt es nicht einmal. Die Preise für Strom, Gas, Benzin werden im kommenden Jahr also steigen. Nur so war das Auftreiben der fehlenden Milliardensummen bei strikter Einhaltung der Schuldenbremse laut Bundesregierung machbar. Die Ampel-Regierung erhöht also die CO²-Preise und baut klimaschädliche Subventionen ab. Das Zusammenklauben von Euros wird so als Klimaschutzmaßnahme getarnt – gleichzeitig bleibt das versprochene Klimageld zur Entlastung aus. Ein fatales Signal Dieses Signal ist fatal: Es schadet der Akzeptanz von klimaschutzbedingten Kosten, wenn dahinter nicht zuerst klimapolitische Beweggründe vermutet werden dürfen, sondern das Schließen von Haushaltslücken. Der Klimaschutz erscheint so als genau die obrigkeitsstaatliche Irrung, an die viele Kritiker der Energiewende ohnehin längst glauben. Dieser Eindruck ist der langfristig kaum zu unterschätzende Preis des Formel-Kompromisses, auf den sich das Ampel-Triumvirat geeinigt hat. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kratzt damit an einem seiner zentralen Versprechen: „You’ll never walk alone“ – die Last der Krisen werde abgefedert. Auf eine Entschuldigung des Bundeskanzlers wartet man trotzdem vergeblich. Stattdessen spricht Scholz in der ARD von einem „ziemlich guten Ergebnis“. Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) will zwar den Unmut verstanden haben, hält die Ampel-Antwort aber für „die einzig denkbare“. Und der Dritte im Bunde? Finanzminister Christian Lindner (FDP) feiert das Absenken der Staatsschuldenquote. Der Kanzler wirkt in diesen Tagen stoisch, manche sagen: entrückt. Dabei folgt seine Haltung durchaus einer inneren Logik: Seit der Wahl hat die Ampel Gesetze im Akkord beschlossen. Erst waren Altlasten der Ära Merkel aufzuarbeiten, dann fegte eine Krise nach der anderen über das Land hinweg. Besserung ist nicht in Sicht. Insofern ist erklärbar, warum mantraartig auf die Erfolge verwiesen wird: volle Gasspeicher im Winter, das Bürgergeld und nun die Haushaltseinigung. Nie zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte hatte eine politisch derart diverse Koalition derartige Krisen zu lösen. Entkopplung von der Wirklichkeit Ja, die Reaktionen aller drei Regierungsköpfe haben viel mit der rauen Regierungswirklichkeit zu tun. Aber zugleich eben nur noch ganz wenig mit der Lebenswirklichkeit der Menschen im Land. Die Ampel ist so mit sich selbst und der Lösung existenzieller innerer Konflikte beschäftigt, dass der Regierung ein schwerwiegender Realitätsverlust droht. Diese Entkopplung von der Wirklichkeit hat auch zu tun mit dem unauflösbaren Grundproblem dieser Koalition: einer komplett anderen Idee vom Staat. Jeder neue Konflikt wird deshalb noch kleinteiliger gelöst, jede Lösung wirkt komplexer, ist von kürzerer Dauer und kaum noch als Erfolg zu verkaufen. Und trotzdem erzählt der Kanzler etwas davon, dass man sich auf die Wiederwahl vorbereite. Beim Zuschauen verfestigt sich ein verheerender Eindruck: Bis zum völligen Verbiegen werden Kompromisse im Sinne des Machterhalts gefunden. Das Regierungshandeln wirkt dadurch unaufrichtig. Diese Unaufrichtigkeit darf man als respektlos empfinden. Durch die Preiserhöhungen bei der Energie könnte der Ärger darüber nun Zorn weichen. Und es gibt eine Partei, die es wie keine andere versteht, solchen Zorn in Wahlergebnisse umzuwandeln: Es ist die AfD. In der Ampel-Koalition werden Umfragewerte der AfD in diesen Tagen gern mit der populistischen Rhetorik der Union beim Asyl erklärt, mit deren zerstörerischer Oppositionsarbeit. Das mag ein Teil der Wahrheit sein. Der große eigene Anteil an den AfD-Erfolgen wird aber verschwiegen – oder nicht gesehen. Die Koalition muss gewarnt sein: Verschleierung als Regierungskonzept geht nur solange noch leidlich gut, bis es die Menschen auf dem Konto merken. Der Tag kommt.