Saturday, December 9, 2023

Abstieg der Grünen: Ende eines Blütentraums

Frankfurter Allgemeine Zeitung Abstieg der Grünen: Ende eines Blütentraums Artikel von Ewald Hetrodt • 7 Std. Die Grünen seien „im besten Sinne bürgerlich“, sagte der frühere hessische Ministerpräsident und CDU-Vorsitzende Volker Bouffier, als er vor genau zehn Jahren das Bündnis einfädelte, das sich gerade auflöst. Die überaus freundliche Charakterisierung mag dazu gedient haben, die schwarz-grüne Koalition gegenüber den skeptischen Stammwählern der CDU zu rechtfertigen. Für die Ökopartei bedeutete sie eine Art Ritterschlag. Ihr konnte sich von nun an getrost zuwenden, wer von der Union enttäuscht war. Die hessische CDU öffnete den Grünen nicht nur die Tür zur Macht, sie richtete ihr auch noch einen Begrüßungsempfang aus. Tarek Al-Wazir wurde der Stellvertreter des Regierungschefs und nahm das Attribut des Bürgerlichen gern in Anspruch. Während der Pandemie reagierte er im Plenum des Landtags auf Kritik der FDP an seinem Krisenmanagement ohne erkennbaren Anlass mit der Frage: „Wissen Sie, was Bürgerlichkeit eigentlich ausmacht?“ Die Antwort gab er selbst: „Bürgerlichkeit macht aus, dass man gar nicht lange darüber nachdenken muss, sondern ein gewisses Grundgespür dafür hat, was man tut und was man besser nicht tut.“ Unabhängig von der Frage, ob Al-Wazir mit dieser eigenwilligen Begriffsdefinition seine Prüfung als Diplom-Politologe bestanden hätte, handelt es sich bei der parlamentarischen Belehrung um eine Schlüsselszene der schwarz-grünen Koalition. Sie illustriert die Strategie, die Al-Wazir im Jahr 2009 in einem Aufsatz veröffentlicht und danach gemeinsam mit anderen Landespolitikern in seiner Bundespartei durchgesetzt hatte. Das „moderne Bürgertum“ repräsentieren Seitdem verstehen die Grünen sich als „führende Kraft für die linke Mitte“. Die bis dahin nachgerade in Stein gemeißelte Festlegung auf Koalitionen mit SPD und Linken gilt nicht mehr. Auch Bündnisse mit CDU oder FDP kommen von nun an offiziell infrage. Schon damals taucht der Schlüsselbegriff auf: In der linken Mitte verorten die Grünen jetzt das „moderne Bürgertum“. Als dessen Verkörperung versteht sich Al-Wazir höchstpersönlich. Um die Strategie zu erproben, war kein anderes Bundesland so geeignet wie seine Heimat Hessen, das Stammland der Grünen, das politische Labor der Republik. 1985 war man hier mit Ministerpräsident Holger Börner (SPD) das erste rot-grüne Bündnis eingegangen. Joschka Fischer wurde der erste Minister seiner Partei. Die bildete in Frankfurt im Jahr 2006 sogar eine Koalition mit der CDU. Al-Wazir war bereit, für die Teilhabe an der Macht einen hohen Preis zu zahlen. Als Wirtschaftsminister akzeptierte und garantierte er nicht nur den von seiner Partei bis dahin immer bekämpften Bau des dritten Terminals am Flughafen. Im Auftrag des Bundes sorgte er pflichtgemäß ebenso für die Realisierung des auch von ihm persönlich immer abgelehnten Lückenschlusses der A 49 zwischen Nord- und Mittelhessen. „Ich muss keinem beweisen, dass ich regieren kann“ Im Gegenzug bekamen die Grünen die Gelegenheit, so viele Windräder wie möglich aufzustellen. Dass sie dabei trotz der gelegentlichen Zuhilfenahme der Brechstange bis heute hinter ihren Zielen zurückblieben, liegt an Hessens Wäldern. Der Schutz der Natur bietet den Gegnern der Windkraft schier unerschöpfliche Möglichkeiten, die Anlagen zu verhindern oder wenigstens jahrelang aufzuhalten. Mehr als die Hälfte des in Hessen erzeugten Stroms werde mit erneuerbaren Energien erzeugt, stellt Al-Wazir fest. Daran ist etwas Wahres. Aber dieser hohe Anteil resultiert nicht etwa aus einem exorbitanten Ausbau von Solar- und Windkraftanlagen, sondern aus der Stilllegung von Atom- und Kohlekraftwerken. Der Minister kann für sich beanspruchen, dass die Einführung des Deutschlandtickets auf das Vorbild der hessischen Flatrate zurückgeht. Ob die bundesweit für nur 49 Euro verkauften Fahrscheine sich am Ende tatsächlich als große Errungenschaft erweisen, bleibt abzuwarten. In der Corona-Krise gehörte Al-Wazir zu den treibenden Kräften bei der Durchsetzung des von der Koalition beschlossenen Sondervermögens zur finanziellen Bewältigung der Pandemie. Das milliardenschwere Schuldenprogramm, das der hessische Staatsgerichtshof für verfassungswidrig erklärte, war in der Fraktion der Grünen nach dem Vorbild anderer Bundesländer erdacht worden. Trotzdem: „Ich muss keinem beweisen, dass ich regieren kann“, stellte Al-Wazir fest, als er in diesem Jahr ins Rennen um das Amt des Ministerpräsidenten ging. Ob er das auch seinen Parteifreunden im Kabinett zugebilligt hätte? Umweltministerin Priska Hinz überstand einen Lebensmittelskandal, dessen Dimension in der Vergangenheit schon manchen Politiker sein Amt kostete. Angela Dorn, Ministerin für Wissenschaft und Kunst, reagierte zu zögerlich auf alle Warnungen vor dem Antisemitismus, der sich in der Weltkunstausstellung Documenta entlud. Das wäre heute ein Rücktrittsgrund. Kai Klose, der Gesundheitsminister, wurde von der Pandemie überrollt. Das Heizungsgesetz ist schuld Doch in der Landtagswahl dieses Jahres kam es auf Al-Wazir an. Die Kandidatur für das Amt lag weiterhin exakt auf der strategischen und programmatischen Linie, wie er sie 2009 vorgezeichnet und danach immer befolgt hatte. „Ich bin nicht so der Typ Kreuzberg, sondern eher das Modell Doppelhaushälfte“, verkündete der Zweiundfünfzigjährige. Bei verschiedenen Gelegenheiten zog er Che Guevaras Ansatz, den neuen Menschen zu schaffen, in Zweifel, um sich dem CDU-Kanzler Konrad Adenauer anzunähern: „Nimm die Menschen, wie sie sind, es gibt keine anderen.“ So ging der Wahlkämpfer auf Distanz zur linken Szene. Gleichzeitig bekannte er sich demonstrativ zum bürgerlichen Lebensstil. Dabei schreckte er auch nicht vor einem Wahlplakat zurück, das ihn mit Krawatte zeigte. Der Stellvertreter eines CDU-Ministerpräsidenten wollte nun selbst Ministerpräsident werden. Dafür gab es eine plausible Strategie und einen passenden Kandidaten. Aber es ging etwas schief. Bouffier, der schwächelnde CDU-Ministerpräsident, den die Grünen so gern herausgefordert und besiegt hätten, überließ sein Amt vorzeitig einem Nachfolger, der sich als äußerst zugkräftig erwies. Noch gravierender aber war das Erscheinungsbild der Bundesregierung und das Heizungsgesetz, das Al-Wazirs Parteifreund Robert Habeck zu verantworten hatte. Ein Rückschlag, von dem sich nicht schnell erholt wird Bei der Landtagswahl am 8. Oktober verloren die Grünen zwar fünf Punkte, aber sie kamen immer noch auf einen Stimmenanteil von 14,8 Prozent. Das hätte rechnerisch gereicht, um die Koalition mit der CDU als Juniorpartner fortzusetzen. Die Partei hätte Al-Wazirs Strategie weiterverfolgen und in fünf Jahren abermals den Versuch unternehmen können, aus der Regierung heraus in der Mitte genug Stimmen einzuwerben, um eine neue Mehrheit im Landtag anzuführen – womöglich mit Dorn als Spitzenkandidatin. Dass die CDU den Grünen diese Perspektive jetzt nimmt, indem sie mit den Sozialdemokraten eine Koalition eingeht, bedeutet einen Rückschlag, von dem die Partei sich nicht so schnell erholen wird. Während Hinz und Klose ihren längst angekündigten Abschied aus der Politik nehmen, ordnen Al-Wazir und Dorn sich in der zweiten Reihe der Abgeordneten ein. Fraktionschef Mathias Wagner wurde gerade in seinem Amt bestätigt. Der Neunundvierzigjährige, der dem Landtag seit zwanzig Jahren angehört, gilt im Unterschied zu Al-Wazir als Gralshüter grüner Werte. Sieht auch er seine Partei als die Verkörperung des Bürgertums? Könnten die Grünen so dem Ministerpräsidenten und CDU-Vorsitzenden Boris Rhein tatsächlich gefährlich werden – wenn sie ihn aus der Opposition heraus angreifen müssen? Das Herz schlägt links Vielleicht gibt Wagner auch der breiten Strömung der Grünen nach, die auf Parteitagen dokumentieren, dass ihr Herz in einiger Entfernung von der Mitte, nämlich links, schlägt. Beispielsweise hielten sie Eva Goldbach, der bisherigen innenpolitischen Sprecherin der Fraktion, vor, im Lübcke-Untersuchungsausschuss gegenüber Innenminister Peter Beuth (CDU) nicht kritisch genug aufgetreten zu sein. Bei den Abstimmungen über die Kandidatenliste für die Landtagswahl ließen sie Goldbach wieder und wieder durchfallen. Jetzt scheidet sie aus dem Parlament aus. Werden also die linken Parteimitglieder, die Al-Wazir nicht in den Arm fallen wollten, als er nach der ganzen Macht griff, jetzt eine neue Programmatik entwerfen? Das wäre im Falle einer Regierung der CDU mit der FDP ein interessantes Angebot. Aber gerade wurde eine „Christlich-Soziale Koalition“ ausgerufen. Sie mit einer linken Programmatik in Schwierigkeiten zu bringen ist nicht nur ein schwieriges Unterfangen. Damit gäbe man die gesellschaftliche Mitte frei, um die Al-Wazir jahrzehntelang geworben hat. Offen ist aber nicht nur, welche inhaltliche Richtung die Grünen einschlagen werden. Nach dem Rückzug Al-Wazirs, der über lange Phasen hinweg als der beliebteste Politiker Hessens galt, fehlt der Partei eine Führungspersönlichkeit dieses Formats. Manche in der Partei setzen große Hoffnungen in die 34 Jahre alte Frankfurter Abgeordnete Miriam Dahlke. Doch bei ihrer Wahl zur Parlamentarischen Geschäftsführerin der Fraktion bekam sie offenbar so starken Gegenwind, dass das Abstimmungsergebnis trotz mehrerer Nachfragen geheim gehalten wurde. Hinterzimmer statt Transparenz. Hessen gilt als Politiklabor, weil dort Entwicklungen vorweggenommen werden, die später in der ganzen Republik einsetzen. Die Grünen haben in all den Experimenten eine wichtige Rolle gespielt und sich dabei selbst sehr verändert. Auch ihre Rückkehr auf die Oppositionsbänke könnte über Wiesbaden hinaus richtungsweisend sein.