Tuesday, September 26, 2023

Was wirklich hinter Roms Wut auf die deutsche Seenotrettung steckt

WELT Was wirklich hinter Roms Wut auf die deutsche Seenotrettung steckt Artikel von Virginia Kirst • 8 Std. Dass Deutschland NGOs finanziert, die im Mittelmeer schiffbrüchige Migranten retten, ist bekannt – auch in Italien. Doch plötzlich verschärft Rom den Ton, wirft Berlin vor, das Land mit illegalen Einwanderern „zu überschwemmen“. Ein Brief, den Meloni an Scholz schrieb, offenbart die Motive. Der deutsch-italienische Streit über die Migrationspolitik geht in die nächste Runde. Am Wochenende startete Rom einen für Berlin überraschenden Frontalangriff: Guido Crosetto, Verteidigungsminister von der rechtsnationalistischen Regierungspartei Fratelli d’Italia, kritisierte die deutsche Regierung dafür, Finanzhilfen an Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu zahlen, die Seenotrettung betreiben und sich in Italien um Migranten kümmern. Crosetto bezeichnete das als „sehr schwerwiegendes“ Verhalten. „Damit tut Berlin so, als ob es nicht wüsste, dass es damit ein Land in Schwierigkeiten bringt, mit dem es theoretisch ‚befreundet‘ ist“, so der Minister. Am Samstag legte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in einem Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz nach. Darin schrieb sie, mit „Erstaunen“ erfahren zu haben, dass die deutsche Regierung „ohne dies mit der italienischen Regierung zu koordinieren“ beschlossen habe, „NGOs (…) mit erheblichen Mitteln zu unterstützen“. Andrea Crippa, stellvertretender Geschäftsführer der Lega-Partei von Matteo Salvini, die mit Meloni koaliert, ging noch einen Schritt weiter. Er erklärte gegenüber der italienischen Zeitung „Affaritaliani“, dass die Deutschen „versuchen, die Regierung zu destabilisieren, indem sie Nichtregierungsorganisationen finanzieren, um uns mit illegalen Einwanderern zu überschwemmen und den Konsens von Mitte-Rechts in Italien zu Fall zu bringen“. Und ergänzte: „Vor 80 Jahren beschloss die deutsche Regierung, mit der Armee in Staaten einzumarschieren, aber das ging schief, und jetzt finanzieren sie die Invasion illegaler Einwanderer, um Regierungen zu destabilisieren, die den Sozialdemokraten nicht gefallen“. Das Seenotrettungsschiff „Humanity 1“ Unabhängig von dem scharfen Ton beanstandet die italienische Regierung ein Vorgehen der Bundesregierung, das längst bekannt war und auf einem Beschluss des Bundestages basiert. Dieser sieht vor, bestimmte NGOs mit insgesamt zwei Millionen Euro zu fördern. Laut dem Auswärtigen Amt mussten die förderungswürdigen Organisationen zunächst ausgewählt werden. Da dies nun geschehen sei, würden bald die ersten Gelder fließen. Dabei handelt es sich um Summen zwischen 400.000 und 800.000 Euro, die etwa an die Organisation SOS Humanity gehen, die im Mittelmeer Seenotrettung betreibt, sowie an die christliche Gemeinschaft Sant’Egidio, die sich um Migranten in Italien kümmert. Von einer Überraschung für die italienische Regierung kann also keine Rede sein. Zumal auch „La Repubblica“ berichtete, dass Berlin Rom über sein Vorhaben informiert habe. In Deutschland werden dreimal so viele Anträge gestellt Melonis Brief legt nahe, dass es sich bei der Attacke vielmehr um die Suche nach einem Sündenbock für die hohen Ankunftszahlen von Migranten in Italien handeln dürfte, den die Regierungschefin ihren Wählern präsentieren möchte. Denn in dem Schreiben macht sie gleich zwei Aussagen, die nicht korrekt sind und auf die Bundeskanzler Scholz daher nur schwer sachlich antworten kann. Erstens stellt Meloni darin die rhetorische Frage, „ob (die Versorgung der Migranten) nicht vor allem auf deutschem Gebiet und nicht in Italien geschehen sollte“. Dabei ist bekannt, dass Deutschland deutlich mehr Aufwand als Italien betreibt, um sich um die Migranten auf seinem Staatsgebiet zu kümmern. Vor allem aber werden in Deutschland jedes Jahr deutlich mehr Asylanträge gestellt: 2023 sind es mit 244.000 Anträgen nicht nur drei Mal so viele wie in Italien, sondern die meisten in der gesamten EU. So zu tun, als würde Deutschland mit der NGO-Finanzierung die Versorgung der Migranten nach Italien auslagern, ist also falsch – und populistisch. Zweitens schreibt Meloni, es sei bekannt, dass die Anwesenheit von NGO-Schiffen zu einer „Vervielfachung“ der Abfahrten von Migrantenboote führe, „was nicht nur zu einer weiteren Belastung für Italien führt, sondern gleichzeitig das Risiko neuer Tragödien auf See erhöht“. Damit bezieht Meloni sich auf die umstrittene Theorie der sogenannten „Pull-Faktoren“, die besagt, dass mehr Migranten sich auf den Weg über das Mittelmeer machen, wenn dort NGO-Schiffe aktiv sind. Die ist aber mehrfach durch Studien widerlegt worden. Vielmehr sind die Wetterbedingungen und die Zustände im Abfahrtsland dafür verantwortlich, wie viele Menschen am Ende die gefährliche Überfahrt wagen. Meloni steht innenpolitisch unter Druck Dass Meloni nun diesen mit zweifelhaften Aussagen gespickten Angriff auf die Scholz-Regierung startet, ist einerseits eine Reaktion darauf, dass Deutschland kürzlich den freiwilligen Solidaritätsmechanismus ausgesetzt hat, mit dem es sich zur Aufnahme von 3500 Migranten verpflichtet hatte, da Italien seit über einem Jahr keine Migranten mehr zurücknimmt, für die es nach dem Dublin-Abkommen zuständig wäre. Andererseits zeigt der Angriff, dass die italienische Regierungschefin innenpolitisch zunehmend unter Druck gerät: Im Wahlkampf war sie als Hardlinerin angetreten, die die „illegale Migration hart bekämpfen“ wollte. Doch seit ihrem Amtsantritt haben sich die Ankünfte an den italienischen Küsten verdoppelt. Auch das kann übrigens als Beleg dafür genommen werden, dass die Präsenz von NGO-Schiffen auf dem Mittelmeer keinen Einfluss auf die Anzahl der Abfahrten hat. Denn Meloni hat von Beginn ihrer Amtszeit an die Arbeit der NGOs erschwert und dafür gesorgt, dass deutlich weniger auf dem Mittelmeer aktiv sind. Trotzdem sind die Abfahrten deutlich gestiegen. Die Maßnahmen, die Meloni unternommen hat, um die irreguläre Migration zu bremsen, haben indes bisher keine Wirkung gezeigt. Allen voran der Migrations-Deal mit Tunesien, den die EU unter ihrer Führung vor zwei Monaten geschlossen hat. Darum sucht sie nun nach Schuldigen, die sie ihren Wählern präsentieren kann. In den vergangenen Tagen hatte sie daher erst Frankreich dafür angegriffen, Grenzkontrollen zu Italien eingeführt zu haben, um irreguläre Migranten abzufangen. Und nun ist eben Deutschland dran, das Land, dem Meloni seit ihrem Amtsantritt eigentlich freundlich begegnet war. Doch im Vorfeld der EU-Wahlen muss sie nun dafür sorgen, wieder als Hardlinerin wahrgenommen zu werden, die auch gegenüber wichtigen EU-Ländern wie Deutschland und Frankreich Italiens vermeintliche Interessen lautstark vertritt.