Tuesday, September 26, 2023
Merkels Wirtschaftsberater: „Hätten wir das geahnt, hätten wir anders gehandelt“
Tagesspiegel
Merkels Wirtschaftsberater: „Hätten wir das geahnt, hätten wir anders gehandelt“
Artikel von Christopher Ziedler •
10 Std.
War die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik der Ära Angela Merkel ein großer Fehler? Lars-Hendrik Röller, ihr langjähriger Berater und Gipfel-“Sherpa“ sieht im Rückblick manches kritisch – und erklärt die damalige Denkweise.
Immer an ihrer Seite: Zehn Jahre lang hat Lars-Hendrik Röller Angela Merkel in allen finanz- und wirtschaftspolitischen Fragen beraten.
Herr Röller, Sie haben zehn Jahre lang Krisenmanagement betrieben, sind an Angela Merkels Seite von Gipfel zu Gipfel gereist und nun zurück im Unibetrieb. Fühlen Sie sich befreit oder unausgelast?
Weder noch. Ich bin weiter an allen ökonomischen Themen interessiert und verfolge mit gewissem Abstand, wie die Nachfolger damit umgehen. Zugleich kann ich mir wieder Zeit nehmen für Dinge, die mir Spaß machen, oder das Handy mal ein ganzes Wochenende weglegen, was vorher undenkbar war. Es gibt also ein Leben nach dem Kanzleramt.
Das Kanzleramt aber begleitet sie weiter, Ihr neues Büro an der Berliner Wirtschaftsuniversität ESMT ist im ehemaligen Übergangs-Kanzleramt der Jahre 1999 bis 2001 untergebracht.
Ich bin an meine alte Business School zurückgekehrt. Es macht mir große Freude, mit jungen Menschen zusammenzuarbeiten und ihnen hoffentlich auch etwas beibringen zu können.
Vermissen Sie etwas?
Sicher nicht die Belastung. Ich erinnere mich, wie ich nach dem G20-Gipfel von Osaka 2019 völlig fertig war, weil ich zehn Tage quasi ununterbrochen die Abschlusserklärung verhandelt hatte. Auf dem Rückflug ging es mir schlecht, die an Bord befindliche Ärztin wollte schon eine Notlandung des Regierungsfliegers in Peking anordnen. Zum Glück stellte sich vorher heraus, dass es nur der Kreislauf war. Auf diesen Druck, bei den verschiedensten Themen möglichst keine Fehler zu machen, kann ich heute gern verzichten.
In jeder Bundesregierung sind bestimmte Dinge gut gelaufen und andere nicht.
Angela Merkels Wirtschaftsberater Lars-Hendrik Röller
In der öffentlichen Debatte heute scheint es, als ob Merkels und damit auch Ihre Wirtschaftspolitik ein großer Fehler war. Was sagen Sie?
In jeder Bundesregierung sind bestimmte Dinge gut gelaufen und andere nicht. Deutschland hatte über Jahre eine starke Wirtschaft und wuchs teilweise stärker als die USA, obwohl wir viele Krisen meistern mussten – Euro- und Finanzkrise, die Migrationszahlen, die Pandemie. Aber ich weiß natürlich, dass die Kritik sich vor allem an den entstandenen Abhängigkeiten entzündet.
Der wirtschaftliche Erfolg beruhte auch auf billigem russischem Gas. Lassen Sie uns über Nord Stream sprechen.
Keine Frage, aus heutiger Sicht wird unsere Energiepolitik kritisch gesehen. Aus damaliger Sicht haben wir eine klare Strategie verfolgt: Wir sind aus der Atomkraft ausgestiegen, Fracking wollte in Deutschland niemand, auch die Lust auf LNG-Terminals war begrenzt, mit den Erneuerbaren ging es zu langsam voran. Vor diesem Hintergrund haben wir auf günstiges russisches Gas als Brückentechnologie gesetzt, was zugleich die Stellung der deutschen Wirtschaft stärken sollte. Dass Wladimir Putin Gas als Waffe einsetzen würde, konnte ich mir zumindest nicht vorstellen, die Sowjets hatten auch im Kalten Krieg stets geliefert.
Aber es gab doch gerade wegen Nord Stream II immer wieder Warnungen aus Brüssel, Warschau oder Washington. Altkanzlerin Merkel hat selbst gesagt, sie habe früh von Putins Traum der Wiederherstellung des russischen Imperiums gewusst.
Sicher, das Projekt wurde kritisiert, und wir kannten auch Putin. Aber es war doch für die meisten von uns unvorstellbar, dass er wirklich einen vollumfänglichen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun brechen würde. Wir haben uns ja parallel mit ihm um die Erfüllung der Minsker Friedensvereinbarung bemüht. Hätten wir auch nur geahnt, dass es kommen würde, wie es kam, hätten wir sicher anders gehandelt.
Wie denn?
Wir hätten all die Dinge tun müssen, die die jetzige Regierung auch tut – mit den Folgekosten höherer Energiepreise, der Inflation und geringeren Wirtschaftswachstums. Vermutlich wäre uns die Umsetzung noch schwerer gefallen, weil politisches Handeln immer dann besonders schwierig ist, wenn ein Problem in der Zukunft verhindert werden soll. Das sehen wir ja aktuell beim Klimaschutz.
Darüber sprechen wir gleich, lassen Sie uns vorher noch über China reden. Sie waren mit Merkel mindestens einmal pro Jahr dort und vereinbarten immer neue Wirtschaftskooperationen. Befürchteten Sie nie, Deutschland könne abhängig und erpressbar werden vom nun größten Handelspartner?
In einer globalisierten Weltwirtschaft existieren ökonomische Abhängigkeiten in vielen Bereichen –teils geht es um befreundete Länder, teils um Länder, die ein anderes politisches Verständnis haben als wir. Chinas Außenpolitik ist erst in den vergangenen Jahren aggressiver geworden, das macht jetzt zusammen mit der neuen geopolitischen Lage eine neue Balance von wirtschaftlicher Vernetzung und nationaler Sicherheit nötig. Es ist also richtig, jetzt Alternativen zu China als Lieferant für bestimmte Rohstoffe zu suchen, oder Handelsabkommen mit Indien oder den Mercosur-Staaten voranzutreiben. Wie wir diese komplexen Beziehungen mit verschiedenen Ländern konstruktiv gestalten können, ist ein Kernthema des Berlin Global Dialogues.
Hätten Merkel und Sie nicht auch mehr Vorsorge treffen können?
Wir haben uns natürlich auch über diese Abhängigkeiten Gedanken gemacht. Für uns stand die Sorge im Mittelpunkt, dass die Chinesen sich unsere deutsche Technologie einverleiben und wir aus dem chinesischen Markt gedrängt werden. Die Kanzlerin hat deshalb immer darauf gedrungen, dass Kooperationen keine Einbahnstraße sein dürfen – heute machen die deutschen Autobauer immer noch gute Gewinne in China, obwohl die Firmen in der Volksrepublik bei der Elektromobilität echte Konkurrenten geworden sind. Was Spionage oder die Anfälligkeit unserer Infrastruktur anbelangt, sind wir auch von Jahr zu Jahr vorsichtiger geworden: Das Außenwirtschaftsgesetz wurde mehrfach verschärft.
Das hört sich so an, als sähen Sie keinerlei Grund, jetzt in Sack und Asche gehen. Auch nicht beim Klimaschutz, wo Wirtschaftsminister Robert Habeck den Vorgängerregierungen gerade wieder attestiert hat, nur schöne Klimaziele definiert, aber nichts für deren konkrete Umsetzung getan zu haben?
Beim Klimaschutz mussten wir tatsächlich auf nationaler wie auf internationaler Ebene erst einmal die Ziele festlegen – zum Ende der großen Koalition wurde noch die angestrebte Klimaneutralität auf 2045 vorgezogen. Es lag in der Natur der Sache, dass die konkreten Entscheidungen dafür Aufgabe einer jeden neuen Bundesregierung gewesen wäre. Insofern verstehe ich die Kritik nicht ganz.
Man hatte nicht den Eindruck, dass in der Groko „Vorfahrt für Erneuerbare“ galt.
Auch wir haben erste Planungsbeschleunigungsgesetze und Bürokratieabbaugesetze auf den Weg gebracht. Aber am Ende ist es auch eine gesellschaftspolitische Frage, für die es vielleicht gerade jetzt die Grünen braucht. So wie es möglicherweise ein Sozialdemokrat sein musste, um die Agenda 2010 zu beschließen, hilft es, wenn eine Umweltpartei nun dafür sorgt, dass nicht mehr jede bedrohte Vogelart einen Windpark verhindert. Ich will aber nicht verhehlen, dass wir gerade beim Klimaschutz von den zähen Strukturen ausgebremst wurden. Geld war angesichts der sehr guten Wirtschaftslage genug da.
Aber ist nicht auch der Schwarzen Null, also dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts, zu viel geopfert worden? Die EU-Kommission hat immer wieder den Investitionsstau in Deutschland beklagt, jetzt zeigt sich, wie marode das Schienennetz oder Autobahnbrücken geworden sind.
Mit der Schuldenbremse haben die Probleme bei der Bahn nichts zu tun. Wir hatten Jahr für Jahr Geld übrig im Haushalt, weil nicht alles ausgegeben wurde. Parteipolitisch wurden teils andere Prioritäten gesetzt, was im Ergebnis dazu führte, dass die Bahn über viele Jahre chronisch unterfinanziert blieb.
Der „Economist“ hat kürzlich auf seiner Titelseite gefragt, ob Deutschland wieder der „kranke Mann Europas“ geworden sei? Zu Recht?
Für die wirtschaftlichen Probleme, die Russlands Angriffskrieg verursacht hat, kann außer Wladimir Putin niemand was. Die große Herausforderung besteht darin, unter erschwerten Bedingungen die digitale und ökologische Transformation hinzubekommen, die wir ohnehin durchlaufen. Aber ich glaube, dass wir das in den Griff bekommen werden...
Beim ersten „Berlin Global Dialogue“ treffen Sie diese Woche wieder Olaf Scholz. Was raten Sie „Ihrem“ früheren Finanzminister und jetzigen Bundeskanzler, damit Deutschland wieder auf die Beine kommt?
Ich werde dem Kanzler sicher keine wirtschaftspolitischen Ratschläge erteilen. Das ist Aufgabe meines Nachfolgers Jörg Kukies. Wir nehmen den „Dialog“ in unserem Namen sehr ernst. Der Kanzler wird also keine Rede halten, sondern an einer Podiumsdiskussion teilnehmen. Es geht mir darum, internationale Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft miteinander ins Gespräch zu bringen.
Sie setzen also in gewisser Weise Ihre Arbeit als Angela Merkels „Sherpa“ auf den G20-Gipfeln fort?
Wir leben in Zeiten einer „globalen Unordnung“ – die Welt droht, auseinander zu driften. Gleichzeitig ist internationale Kooperation wichtiger als jemals zuvor. Denn die großen Herausforderungen unserer Zeit – von KI bis Klimawandel – lassen sich nur gemeinsam lösen.
Der „Berlin Global Dialogue“ ist eine Diskussionsplattform für diese multipolare Welt. Unsere Veranstaltungsformate reflektieren diesen Ansatz: Bei uns gibt es keine langen Einzelreden, sondern interaktive Gesprächsrunden. Wir freuen uns, dass das Konzept bisher positiven Anklang findet: Neben mehreren Staats- und Regierungschefs und einigen „Sherpas“, wird zum Beispiel auch ein Minister aus China anwesend sein. Als Symbol der Wiedervereinigung ist Berlin der ideale Austragungsort für eine solche Veranstaltung.
Wenn es eine globale Unordnung gibt, wie sollte dann aus Ihrer Sicht eine neue Weltordnung aussehen?
Wir müssen eine starre Blockbildung verhindern, darum ist der Dialog zwischen verschiedenen Einheiten wichtiger denn je. Es ist gut, dass alle BRICS-Staaten, also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, auch Mitglied der G20 sind. Aber das reicht nicht mehr. Es wäre wichtig, dass die Afrikanische Union sowohl dort als auch im Weltsicherheitsrat vertreten ist.
Auch die G7-Runde der westlichen Industrienationen sollte sich deutlich erweitern – da hat Kanzler Scholz vergangenes Jahr in Elmau schon den Auftakt gemacht. Dazu soll der „Berlin Global Dialogue” einmal im Jahr einen Beitrag leisten – als ein inspirierendes Diskussionsforum für globale Wirtschaftsfragen und offener Austausch zwischen Politik und Wirtschaft.
Werden nicht all diese Bemühungen hinfällig, falls Donald Trump nächstes Jahr erneut zum US-Präsidenten gewählt werden sollte? Sie wissen aus erster Hand, wie schwer es war, mit „America First“ zu kooperieren.
Eine zweite Amtszeit Trumps würde die Welt stark verändern – und nicht zum Guten. Die transatlantischen Beziehungen haben die erste nur deshalb überstanden, weil wir versucht haben, so pragmatisch wie nur irgend möglich an die Sache ranzugehen.
Merkel hat ihn bei ihrem Antrittsbesuch im Weißen Haus verblüfft, als sie eine Kooperation bei der dualen Ausbildung anbot, nicht das, womit man nach der Drohung mit Strafzöllen auf deutsche Autos rechnete.
Wir hatten uns lange überlegt, welche Themen für eine konstruktive Zusammenarbeit in Frage kommen könnten. Bekanntlich hatte Ivanka Trump großen Einfluss auf ihren Vater und sie engagierte sich ehrenamtlich für Auszubildende. Wir dachten, dass das ein guter Anknüpfungspunkt sein könnte. Trump hat dann im Oval Office trotzdem über das Handelsdefizit geschimpft, aber wir hatten damit zumindest etwas, über das wir ins Gespräch kommen konnten. Bei „unserem” G20-Gipfel in Hamburg konnten wir ihn dann immerhin von den Autozöllen abbringen.