Wednesday, September 20, 2023

Kommentar zur Asylpolitik: Brüssel handelt, Berlin diskutiert

Frankfurter Allgemeine Zeitung Kommentar zur Asylpolitik: Brüssel handelt, Berlin diskutiert Artikel von Nikolas Busse • 6 Std. Migranten kommen am 18. September in Lampedusa an In der Debatte über die stark gestiegene Migration wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die EU und damit auch Deutschland derzeit eine besondere Situation erleben: Es gibt eine Art Nachholeffekt nach den Lockdowns der Pandemie, und es gibt zusätzlich zu den 519.000 Asylbewerbern, die im ersten Halbjahr in der EU einen Antrag stellten, auch vier Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge in Europa. Beides ist richtig, aber es ist keine Gewähr dafür, dass sich die Lage von selbst wieder entspannen wird. Der Krieg kann noch lange dauern, und in vielen anderen Krisenregionen wird sich die Lage voraussichtlich auch nicht allzu schnell ändern. Vom Balkan bis Afghanistan lautet eine Lehre aus dem Migrationsgeschehen der vergangenen Jahrzehnte, dass Wanderungsbewegungen schwanken, aber jederzeit wieder anschwellen können. Schon Merkels Flüchtlingspolitik unterlag dem Irrtum, dass es sich um eine mehr oder weniger einmalige Hilfsaktion in der syrischen Tragödie handelte. Obergrenze nicht auf der Agenda In Deutschland tut man sich mit dieser Einsicht bis heute schwer. Für die EU insgesamt gilt das nicht. Die jüngsten Bilder aus Lampedusa erweckten den Eindruck, als habe sich nicht viel geändert, denn man hat sie so oder so ähnlich schon oft zu sehen bekommen, nicht nur aus Italien. Während viele verantwortliche Politiker in Deutschland den Kopf in den Sand gesteckt haben, wurde in Brüssel in den vergangenen Jahren einiges auf den Weg gebracht, um in der Migrationspolitik umzusteuern. Das beginnt beim stärkeren Schutz der Außengrenzen und hat vor allem zu jenem Asylkompromiss geführt, der kürzlich im Ministerrat verabschiedet wurde. Diese Gesetzgebung ist noch nicht abgeschlossen, Rat und EU-Parlament müssen sich noch einigen. Trotzdem verdient sie mehr Aufmerksamkeit, denn sie könnte in ein paar Jahren tatsächlich Entlastung für die europäischen Asylsysteme bringen. Debatten über deutsche Obergrenzen oder die Abschaffung des Individualrechts auf Asyl kann man durchaus führen, aber sie stehen derzeit nicht auf der Brüsseler Agenda. Auf einem Kontinent mit weitgehend offenen Grenzen und einer vergemeinschafteten Asylpolitik hält nun mal die EU die großen Stellschrauben in der Hand. Schnellverfahren an der Grenze Die vielleicht wichtigste Neuerung der geplanten Asylreform ist die Einführung eines Verfahrens an den EU-Außengrenzen, das für Antragssteller gelten soll, die aus Ländern mit niedriger Anerkennungsquote kommen. Sie sollen ein Schnellverfahren erhalten und vor allem nicht mehr in Europa weiterreisen dürfen. Im vergangenen Jahr hätte das zum Beispiel ein Viertel der damals 880.000 Erstantragsteller betroffen. Das hätte auch die deutschen Kommunen spürbar entlastet. Und es zeigt, welche Spiegelfechterei gerade die Grünen bei diesem Thema immer wieder aufführen. Sie wehren sich in Deutschland gegen die Einstufung der Maghreb­staaten als sichere Herkunftsländer. Den Brüsseler Kompromiss haben sie aber mitgetragen. Er würde wahrscheinlich dazu führen, dass Bewerber aus Tunesien oder Marokko im neuen Grenzverfahren landen – ebenfalls eine Abkürzung des Prozesses, die sogar mit einer Internierung verbunden wäre. Ob die Sache gelingt, hängt nicht nur vom Ausgang der Brüsseler Gesetzgebung ab, sondern auch von schwierigen praktischen Fragen. Am Ende der Schnellverfahren wird man einen Großteil der Bewerber abschieben müssen. Das ist schon heute eine der größten Herausforderungen der europäischen Asylpolitik, weil Herkunft- und Transitstaaten oft mauern. Dass etwa Tunesien auf die gewünschte Zusammenarbeit mit der EU bisher nicht eingeht, ist kein gutes Zeichen. Hier wird man noch viel größere diplomatische Anstrengungen machen müssen; auch vor wirtschaftlichem Druck sollte Europa nicht zurückschrecken. Ein großes Hindernis für eine bessere Steuerung des Migrationsgeschehens bleibt außerdem die deutsche Politik. Immer noch glaubt die Ampel, dass es keine Folgen hat, wenn die Bundesregierung die Lage von Migranten verbessert. Vereinfachte Einbürgerungen oder ein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer, wie es Faeser vorschlägt, sind nicht nur für Fachkräfte ein zusätzlicher Anreiz, nach Deutschland zu kommen. Der Spurwechsel hat immerhin einen Stichtag, aber solche Feinheiten werden nicht bei jedem Wanderungswilligen ankommen, und wie lange er hält, ist eine andere Frage. Dass sich in Europa etwas geändert hat in der Haltung zur Migration, ist leider auch eine Folge des Aufstiegs von Rechtspopulisten in vielen Mitgliedstaaten. Deutschland ist davor nicht mehr gefeit, und das allein sollte zu einem Umdenken führen. Es geht nicht mehr nur um das Schicksal von Migranten, sondern auch um die Zukunft der deutschen Demokratie.