Thursday, September 21, 2023
Eine Analyse von Ulrich Reitz - Faeser ist von Affären geschwächt - da wirft die FDP eine Asyl-Granate
FOCUS online
Eine Analyse von Ulrich Reitz - Faeser ist von Affären geschwächt - da wirft die
FDP eine Asyl-Granate
Artikel von Von FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz •
7 Std.
Bundeskanzler Olaf Scholz (r, SPD) und Nancy Faeser (SPD), Bundesministerin für Inneres.
Die Migrationskrise hat der Bundeskanzler ausgerechnet Nancy Faeser anvertraut. Die hat ihr Vertrauen in der Bevölkerung inzwischen weitgehend verspielt. Und nun verlangt der liberale Koalitionspartner auch noch eine komplette Asylwende. Raue Zeiten drohen.
Kaum war der Bundeskanzler weggeflogen nach Amerika, hat ihm sein liberaler Koalitionspartner eine Granate ins leere Kanzleramt geworfen. Die FDP fordert per Präsidiumsbeschluss nicht nur eine „Wende in der Migrationspolitik“. Sie geht erheblich weiter: Christian Lindner verlangt eine Abkehr von der Migrationspolitik Angela Merkels (CDU), zu der sich noch nicht einmal die Union bislang bereitgefunden hat. Und einen tiefen Einschnitt, vergleichbar mit dem Asylkompromiss Anfang der 90er Jahre.
Lindner macht Druck, viele Bürger wollen Faeser-Aus
Die Explosionsgefahr könnte kaum höher sein. Der Bundeskanzler hat ausgerechnet seiner SPD-Parteigenossin Nancy Faeser, von Affären geschwächt und beschäftigt mit ihrem bisher wenig erfolgreichen Wahlkampf in Hessen, das drängendste und zugleich schwierigste innenpolitische Problem der Gegenwart anvertraut. Zugleich ist beim FDP-Vorsitzenden die Geduld mit der rot-grünen Migrationspolitik am Ende. Lindner sieht, wie er dem Münchner Merkur sagte, in der Bevölkerung bei aller grundsätzlichen Offenheit für Einwanderung aber „keinerlei Bereitschaft mehr, ungeordnete Migration in unsere Sozialsysteme zu tolerieren“. In einer Insa-Umfrage wünschen sich mehr als die Hälfte der Befragten die Abberufung von Faeser als Innenministerin.
Um zu verstehen, was die FDP da von ihren beiden Koalitionspartnern verlangt, sollte man mit Lindner an den Beginn der neunziger Jahre zurückkehren. Auch damals, genau wie heute, schwoll die unkontrollierte Einwanderung zu einem Strom an, zum ersten Mal kamen mehr als 400.000 Menschen innerhalb eines Jahres nach Deutschland. Die Union verlangte als letzten Ausweg eine tiefgreifende Grundgesetzänderung des Asylrechts, die SPD war sehr lange und sehr grundsätzlich dagegen. Bis die Zahlen explodierten und eine für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohliche „Das-Boot-ist-voll-Rhetorik“ in der Bevölkerung um sich griff.
in den 1990er-Jahren löste Deutschland das Problem
Vor ein paar Tagen ist Hans Ullrich Klose gestorben. Er war zu jener Zeit der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag. Klose war zugleich kommunal geerdet, er nahm die Sorgen und Ängste der Bürgermeister – viele aus seiner eigenen Partei – ernst, und war schließlich bereit zu der Grundgesetzänderung, die eine tiefgreifende Zäsur darstellte. Eben eine Asylwende – also das, was die FDP nun verlangt. Damals wurde das Dublin-System eingeführt. (Grob: Wer durch ein anderes europäisches Land kam, konnte in Deutschland kein Asyl mehr beantragen.) Die Zahlen sanken, Deutschland fand seinen inneren Frieden wieder, die beiden großen demokratischen Parteien hatten ein Mega-Problem abgeräumt. Kloses CDU-Partner damals hieß Wolfgang Schäuble.
Auch heute liegen die Vorschläge für eine Migrationswende auf dem Tisch, aber: SPD und Grüne sind – noch? – nicht bereit dazu. Obwohl wieder die Zahlen explodieren. Obwohl wieder eine bedrohliche Rhetorik um sich greift. Obwohl die Zustimmung zur AfD proportional mit dem Migrantenzahlen zu wachsen scheint. Der Unterschied: Damals gab es die Grünen zwar schon, sie hatten aber auf zwei Ebenen noch nichts zu sagen: in den Städten und Gemeinden, wo Politiker am frühesten die Sorgen der Bürger spüren. Und auf Bundesebene, wo die großen Gesetze gemacht werden.
Und, gar nicht nebenbei: die Meldung der letzten Tage, Grünen-Chefin Ricarda Lang verlange schnellere und konsequentere Abschiebungen, ist hart an der Grenze zum Blödsinn. Lang verlangt nicht schnellere Abschiebungen, sondern, mehr Abkommen mit Herkunftsländern außerhalb Europas abzuschließen, um dann schneller abschieben zu können.
Zu diesem Zweck wurde ein Abschiebebeauftragter in der Ampel installiert, Joachim Stamp, ein Mann von der FDP. Dem Lang auf diese Weise eins auswischen wollte. Weil man so miteinander umgeht in der Koalition. Die Schlagzeile hätte also nicht lauten dürfen, Lang verlange schnellere Abschiebungen, sondern: Lang ermahnt ihre Konkurrenz von der FDP, endlich ihren Job zu machen. Es war eine Retourkutsche der Grünen-Chefin für allerlei Interventionen von Christian Lindner. Zum Beispiel, die grüne Familienministerin bei der Kindergrundsicherung auflaufen zu lassen.
Lindner will Asylwende
Im Status des Aufgelaufenseins ist die Grüne immer noch, dank Lindner. Nun aber aus einem neuen Grund: Der FDP-Chef und Bundesfinanzminister nimmt der Grünen übel, nach der letzten Koalitionseinigung noch das Asylbewerberleistungsgesetz in die Kindergrundsicherung geschmuggelt zu haben. Damit kämen auch Asylbewerber in den Genuss neuer Leistungen für Kinder. Und das will Lindner nicht. Denn er will schließlich eine Asylwende, und dazu passt es nicht, einen neuen Anlass für noch mehr irreguläre Einwanderungen zu schaffen.
Lindner verlangt, was sonst Konservative verlangen: Ordnung. Kontrolle. Und Verantwortungsethik. Das Ende rot-grüner „Wunschvorstellungen“. Lindners „Idealvorstellung“ ist so weit von SPD und Grünen entfernt, wie der Mond von der Erde weg ist. „Ich ziehe vor, dass Asylbewerber idealerweise ihre Verfahren vom Ausland aus beginnen und überhaupt erst mit einem positiven Bescheid einreisen.“
Demgegenüber beschwören Scholz und Faeser und Lang und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) den individuellen Asylrechtsanspruch von jedem Migranten, der es bis an Deutschlands Grenze schafft. Einen intensiveren Grenzschutz, den inzwischen nicht nur die Union, sondern auch die FDP verlangt, lehnt die Bundesinnenministerin ab. Die praktizierte Schleierfahndung sei wirkungsvoller als ständige Grenzkontrollen stationärer Polizeiteams. Welche sich in Bayern, an der Grenze zu Österreich, bewährt haben.
Lindner, und das ist neu, setzt nun an einem der empfindlichsten Punkte an: der Rücküberweisung von deutschem Sozialgeld in die Herkunftsländer der Migranten. Diese Rücküberweisungen sind einer der wichtigsten Gründe dafür, dass zu weit mehr als 90 Prozent junge und starke Männer und nicht schwächere Frauen und Kinder, die aber möglicherweise bedürftiger wären, nach Deutschland einwandern. Und selbst bei abgelehnten Asyl-Bescheid nicht mehr wegmüssen.
Kühl demaskiert die FDP die humanitäre Erzählung von Rot-Grün
Lindner führt ein „financial blocking“ in die Debatte ein. Und erweitert damit den – aus grün-roter Sicht – Schreckenskatalog der Liberalen aus Grenzschutz und Sach- statt Finanzleistung noch. Noch entscheidender: Kühl demaskiert die FDP die humanitäre Erzählung von Rot-Grün, indem er auf die Finanzinteressen der Migranten verweist – die Rücküberweisungen. Und die Milliarden, die die irreguläre – wenn nicht illegale – Einwanderung kostet. Damit nicht genug:
Auch bei der Seenotrettung hat die FDP ganz eigene Vorstellungen. Die der Gedankenwelt der italienischen Regierungschefin Georgia Meloni weitaus näherliegen als den Vorstellungen führender sozialdemokratischer und grüner Politiker. Die Liberalen wollen die Rückkehr einer staatlichen Seenotrettung, aber: die Marine soll die geretteten Migranten nicht, wie die privaten Retter, nach Europa bringen. Sondern zurück in die Länder, aus denen sie Richtung Europa ablegten.
Olaf Scholz als Hauptproblem?
Die FDP sorgt sich um die öffentliche Ordnung. Diese Sorge ist keine Projektion, keine Sorge zum Zweck parteipolitischer Instrumentalisierung. Sie ist vielmehr real. Soeben haben in Nordrhein-Westfalen 350 (!) Bürgermeister an ihren Ministerpräsidenten Hendrik Wüst geschrieben. Es ist ein einziger Hilferuf, weil die Kommunen nicht mehr ein noch aus wissen. Und weil deshalb für die Bürger jetzt auch noch schmerzliche Steuererhöhungen drohen. Einer der wichtigsten Gründe laut den Bürgermeistern: Die unklare Finanzierung der Migranten, und das „ohne erkennbare Aussicht auf Neuordnung des Zuwanderungsgeschehens“. Wüst regiert in einer Koalition mit den Grünen, die an einer „Neuordnung des Zuwanderungsgeschehens“ so viel Interesse haben wie ein hungriger Hund an einem kargen Müsli.
Manch ein lokaler Verwaltungschef hält übrigens nicht Nancy Faeser für das Hauptproblem bei der Migration. Sondern Olaf Scholz. Wie der Landrat von Fürstenfeldbruck, Thomas Karmasin. Im Hinblick auf die Nicht-Reaktion aus dem Bundeskanzleramt auf einen Hilfsappell von 70 Bürgermeistern und Landräten in Asylsachen urteilt der Mann bei Cicero so hart wie desillusioniert: „Der Bundeskanzler hat sich doch längst aus der aktiven Politik zurückgezogen in dieser Frage.“