Friday, September 1, 2023

Die EU manövriert sich in die kollektive Verantwortungslosigkeit

Frankfurter Allgemeine Zeitung Die EU manövriert sich in die kollektive Verantwortungslosigkeit Artikel von Werner Mussler • 8 Std. In einem öffentlich wenig beachteten Bericht hat die EU-Kommission kürzlich versucht, ihre vielen klima- und industriepolitischen Initiativen mit Preisschildern zu versehen. Demnach braucht es Investitionen von zusätzlich 620 Milliarden Euro im Jahr, um den Green Deal und das damit verbundene Programm Repower-EU zu finanzieren, das die EU unabhängig von fossilen Brennstoffen machen soll. Weder die im EU-Haushalt eingeplanten noch die Mittel aus dem schuldenfinanzierten EU-Aufbaufonds reichten dafür aus. Nötig seien ferner 125 Milliarden Euro, um die Investitionslücke für die digitale Transformation zu schließen. Mehr Geld brauche die EU auch für ihre „neue Geopolitik“, also stetig steigende Rüstungsausgaben, hinzu kämen die Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine, die die Kommission mit 384 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren veranschlagt. Eher nebenbei erwähnt sie die erheblich steigenden Ausgaben zur Bewältigung des demographischen Wandels. Ihr ursprüngliches Vorhaben eines „Souveränitätsfonds“ verfolgt die EU-Behörde erst einmal nicht weiter. Die dahinter stehende Idee, die „Souveränität“ der eigenen Wirtschaft mit Staatsgeld zu subventionieren, spukt aber weiterhin in vielen Brüsseler Köpfen. Spätestens seit der Finanzkrise 2008, als die Kommission die EU-Beihilferegeln aussetzte, um den Mitgliedstaaten zusätzliche Ausgaben für ein rasches Ende der damaligen Rezession zu ermöglichen, findet die Behörde als Ordnungsfaktor für die Kontrolle von Staatsausgaben nicht mehr statt. Gemeinsam mit den Mitgliedstaaten hat sie immer neue Gründe für die Abwendung oder Abfederung von Krisen in der EU gefunden – mit der Folge, dass immer unklarer ist, wer da mit welcher Begründung für welchen Zweck neues Geld ausgibt und auf welcher Rechtsgrundlage er das tut. Künftige Generationen müssen das schultern Auf der einen Seite sind die EU-Regeln durchlöchert, die den Ausgaben der Mitgliedstaaten Grenzen setzen sollen. Die Beihilferegeln wurden in den vergangenen Krisen mit immer neuen Begründungen gedehnt oder verändert, sodass sie ihrem ursprünglichen Zweck – eine Verfälschung des Wettbewerbs im Binnenmarkt zu verhindern – längst nicht mehr gerecht werden. Die Mitgliedstaaten sollen jetzt in die Lage versetzt werden, möglichst viele angebliche und tatsächliche Krisen mit möglichst viel Geld zuzukleistern. Dabei hilft, dass der EU-Stabilitätspakt seit Längerem ausgesetzt ist. Die EU-Kommission möchte seine Anwendung noch stärker als ohnehin schon selbst übernehmen. Auf der anderen Seite erlaubt der schuldenfinanzierte Corona-Aufbaufonds der Kommission erstmals in großem Umfang den Zugriff auf Geld, das nicht direkt von den Mitgliedstaaten kommt. Die Verwendung dieser Mittel ist jenseits von Parolen wie „grüner und digitaler Umbau“ nur verschwommen definiert, die Kontrolle besorgt die Kommission selbst. Das daraus entstandene Muster bedeutet nicht nur, dass nun auf allen EU-Entscheidungsebenen Schulden gemacht werden können, deren Folgen künftige Generationen werden schultern müssen. Hinzu kommt eine neue kollektive Verantwortungslosigkeit: EU und Mitgliedstaaten werden in ihrer Ausgabenpolitik nicht mehr durch EU-Regeln eingeschränkt; weder die Kommission noch ein Staat werden für sein Budgetgebaren in Haftung genommen. Knappe Mittel klug und sorgsam ausgeben Bisher war das zumindest ein wenig anders: Unsolide Haushaltspolitik der Staaten war dem Urteil der Finanzmärkte ausgesetzt (was sich indes schon mit den Rettungsaktionen von EZB und Euro-Krisenfonds geändert hat), und die EU-Kommission konnte sich nicht in größerem Umfang verschulden. Heute vertraut sie darauf, dass ihre Bonität jener der wichtigsten Mitgliedstaaten entspricht. Ob dieses Vertrauen auf Dauer trägt, steht in den Sternen. Fest steht nur, dass sich die Kommission lieber damit beschäftigt, dass und warum sie neues Geld für hehre europäische Zwecke braucht. Diese Vorliebe macht sie als Hüterin der EU-Schuldenregeln unglaubwürdig. Dass der grüne und digitale Umbau der EU-Wirtschaft sehr viel Geld kosten wird, kann nicht ernsthaft infrage stehen. Gerade deshalb müssen die knappen staatlichen Mittel klug und sorgsam ausgegeben werden. Das muss sich nicht nur die Ampelkoalition angesichts ihrer industriepolitischen Stümpereien sagen lassen. Es gilt auch für die EU-Kommission. Deren finanzpolitische Wunschzettel sind nicht nur maß-, sondern auch einfallslos. Kaum ein ökonomisches Problem lässt sich mit Staatsgeld aus der Welt schaffen.