Thursday, July 28, 2022
Die Aufweichung der Russland-Sanktionen läuft bereits
WELT
Die Aufweichung der Russland-Sanktionen läuft bereits
Christoph Kapalschinski - Gestern um 16:20
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An russischen Supermarkt-Kassen fehlt etwas: Kaugummi der bislang meistverkauften Marke Orbit wird knapp. Dabei hat sich der Hersteller, der US-Konzern Mars, aus dem Markt nicht zurückgezogen. Ursache ist vielmehr laut der russischen Wirtschaftszeitung „Kommersant“: Die westlichen Sanktionen betreffen auch Kaumasse. Sie ist die Basis für das Produkt, das Mars in St. Petersburg produziert.
„Alte Meiler wieder ans Netz zu holen ist technisch möglich, wird aber politisch nicht möglich sein“, sagt Nikolaus Doll von der WELT-Politikredaktion. Er erklärt, warum Russland gerade „glänzend verdient“ und wie realistisch eine Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke ist.
Der Grundstoff aus synthetischen Polymeren, den auch deutsche Hersteller wie Wacker Chemie anbieten, wird unter einem Zollcode innerhalb der Gruppe „Chemische Produkte (…) einschließlich solcher, die aus Mischungen von Naturprodukten bestehen“ geliefert. Dieser Punkt steht laut dem Bericht auf der Sanktionsliste.
Und offenbar ist das nicht der einzige chemische Stoff, der den westlichen Markenartiklern in ihren russischen Fabriken fehlt. Auch Lieferstopps für bestimmte Farbstoffe und Emulgatoren machen den globalen Lebensmittelherstellern, die meist vor Ort produzieren, zu schaffen.
Daher wollen sie nun ihren Brüsseler Lobbyverband Food Drink Europe ansprechen, damit dieser bei der EU für Ausnahmen von den Sanktionen streitet, berichtet die Moskauer Zeitung unter Bezugnahme auf ein internes Schreiben des russischen Branchenverbands Askond. Eine Sprecherin von Mars Russland teilte mit, das Unternehmen äußere sich dazu nicht. Food Drink Europe erklärte, bislang keine entsprechende Anfrage erhalten oder Schritte dazu unternommen zu haben.
Klar ist: Der Druck auf die EU und ihre Verbündeten in Nordamerika, die eilig eingeführten Sanktionen an die Alltagsrealität anzupassen, wächst. Schließlich zeichnet sich kein Nachgeben Russlands ab – und so wird die Wirtschaft womöglich noch jahrelang mit den Auflagen leben müssen. Zugleich nutzt auch der Kreml technische Argumente, um über seine schwer verzichtbaren Exportgüter Gas, Öl und Getreide Stimmung zu machen, die Sanktionen abzumildern.
Dabei erzielt Russland zumindest Propaganda-Erfolge. Schließlich betont Präsident Wladimir Putin stets – etwa auf seiner viel beachteten Rede beim Petersburger Wirtschaftsforum im Juni – die Sanktionen belasteten Europa und seine Verbündeten stärker als Russlands Volkswirtschaft.
Kreativer Umgang mit Nord Stream 1
Prominentestes Beispiel für den kreativen Umgang mit den Sanktionen ist die Siemens-Turbine für die Gaspipeline Nord Stream 1, die nach Wartungsarbeiten in Kanada festhing. Weil sie unter den kanadischen Sanktionsbestimmungen nicht nach Russland geliefert werden durfte, wurde sie formal zunächst nach Deutschland geschickt.
Hier steht sie nicht unter Sanktion und darf somit ausgeführt werden. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) argumentiert, Russland dürfe kein Vorwand gegeben werden, die Gasmenge zu reduzieren.
Das zeigt auch, wie sich die Diskussion gewendet hat. Wehrte sich direkt nach Kriegsbeginn der BASF-Chef Martin Brudermüller noch gegen populäre Forderungen, Deutschland solle Russland die Lieferverträge kündigen, blickt die deutsche Politik inzwischen fast einhellig sorgenvoll auf die russischen Liefermengen.
Auch in anderen Bereichen macht die Realität Nachbesserungen nötig. In der vergangenen Woche verschärfte die EU nicht nur Sanktionen etwa bei Handel mit Gold und Schmuck, sondern schwächte auch die früheren Sanktionspakete in Details ab. Allerdings unterlief dabei ein kommunikativer Fauxpas: In der ursprünglichen Pressemitteilung des Europäischen Rates hieß es, die EU erleichtere die Wartung von Flugzeugen.
Russische Medien jubelten daraufhin über vermeintliche deutliche Zugeständnisse der EU, die Aktie der Fluggesellschaft Aeroflot legte kräftig zu. Schließlich droht der russischen Luftfahrt der Stillstand, wenn keine Ersatzteile mehr verfügbar sind.
Inzwischen haben die Brüsseler Kommunikatoren den Satz zur Luftfahrt in der Online-Version ihrer Mitteilung gestrichen. Bei den EU-Beschlüssen sei es gar nicht um Zugeständnisse an Russland gegangen, hieß es aus dem Umfeld der EU-Kommission zur Begründung.
Vielmehr habe das ursprüngliche Sanktionspaket europäischen Flugzeugbauern wie Airbus untersagt, sicherheitsrelevante Daten an die UN-Flugsicherheitsorganisation ICAO zu übermitteln – aus dem formalen Grund, dass Russland in dem Gremium Mitglied ist. Allein diese Fehlkonstruktion im Sanktionspaket sei mit der Ergänzung der Regeln ausgeräumt worden. Die Mär über die nachgiebige EU hatte da allerdings das russische Publikum schon erreicht.
Einen Erfolg erzielte der Kreml auch beim Thema Weizen: Rückläufige Liefermengen an Drittwelt-Länder hätten auch damit zu tun, dass die EU Zahlungen erschwere, heißt es seit Monaten aus Moskau. Daher sei ein Nachgeben bei den Sanktionen notwendig, um den Export zu sichern.
Bislang hatten die Europäer dies zurückgewiesen. Vergangene Woche präzisierte der EU-Rat jedoch die Vorschriften und fügte Ausnahmen für Finanzgeschäfte mit staatlichen russischen Organisationen ein, wenn sie für den globalen Handel mit Agrarprodukten, Dünger, Öl oder Medikamente notwendig sind. „Dies steht im Einklang mit der Bekämpfung des falschen Narrativs, dass EU-Sanktionen weltweit zu Ernährungs- und Energieunsicherheit führen“, sagte eine Kommissionssprecherin WELT.
Zudem werden Finanztransaktionen erlaubt, wenn es um den Import von Gas, Titan, Aluminium, Kupfer, Nickel, Palladium oder Eisen aus Russland in den Europäischen Wirtschaftsraum geht.
Westliche Marken verlieren an Strahlkraft
Im russischen Markt verlieren westliche Marken derweil an Strahlkraft – auch weil diejenigen Hersteller, die sich nicht ganz aus dem Land zurückziehen, häufig Werbekampagnen gestoppt und Sortimente reduziert haben. Versorgungsengpässe gibt es dennoch nicht: Laut dem Marktforscher NielsenIQ ist der Anteil von ausländischen Marken in den russischen Supermärkten gegenüber dem Vorjahr um vier Prozentpunkte auf 17 Prozent gesunken.
Vor allem bei Bier konnten russische Hersteller aufholen – zulasten von Heineken und Anheuser-Busch-Inbev, die stark in den Markt investiert hatten. Auch bei Spirituosen, Körperpflegeprodukten und Snacks gewinnen russische Hersteller Marktanteile zurück. Anders als in den vergangenen Jahren seien westliche Marken für das Image der Supermärkte nicht mehr unverzichtbar, analysieren die Marktforscher.
Allerdings sind offenbar nicht alle Produkte ersetzbar. Die neu geschaffenen russischen Marken CoolCola, Street, Fancy, Fantola und Chernogolovka Kola, die die eingestellten Angebote von Coca-Cola ablösen sollen, kommen erst auf einen Marktanteil von fünf Prozent.