Wednesday, July 6, 2022

Andrij Melnyk: Trotz allem ein Verlust

ZEIT ONLINE Andrij Melnyk: Trotz allem ein Verlust Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk wird seinen Posten los. Er hat auch Mist gebaut. Und viele, die er genervt hat, freuen sich. Schade ist seine Ablösung dennoch. Dieser Botschafter schimpft und er pöbelt, so muss man das gelegentlich sicher nennen. Ja, er bittet auch und erklärt, doch vor allem fordert er und klagt an. Wenn Andrij Melnyk in Deutschland für die Ukraine das Wort ergreift, weiß jeder sofort, was Sache ist. Sich selbst hat er damit nicht nur Freundinnen und Freunde gemacht, seinem Land im Krieg aber gegen behäbige Berliner Politikbeharrlichkeit und gesellschaftliche Trägheit verlässlich Aufmerksamkeit und Unterstützung verschafft. Es nervt, wenn so einer immer wieder die Versäumnisse und Schwächen des Gastlandes entblößt, vergangene wie gegenwärtige. Es dürfte auch geholfen haben, zu verstehen, wogegen und wofür die Ukraine kämpfen muss. Wenn er demnächst geht, und darauf läuft es nach den jüngsten Kontroversen offenbar hinaus, geht etwas verloren. Melnyk hat als Vertreter der Ukraine in Deutschland nicht nur vieles gesagt, das nicht jedem passte. Er musste sich auch einiges anhören. Das reichte vom alltäglichen Schmutz in den sozialen Medien bis zum Justizstaatssekretär in Mecklenburg-Vorpommern, der nicht mehr an sich halten konnte: "Sie sind ein schlechter bis widerlicher Botschafter!", twitterte Friedrich Straetmanns im April, bevor er die Beschimpfung löschte und sich entschuldigte. Es ist nur ein wahlloses Beispiel. Viele andere, die Melnyk wissen ließen, was sie von ihm halten, setzten eher lustvoll noch eins drauf, wieder und wieder. Anstand wurde von ihm verlangt, Demut gar, zum Teufel jagen wollten sie ihn – tja, wer so hart austeilt, muss eben einiges wegstecken können. Jetzt beruft ihn seine Regierung als Botschafter ab, noch vor dem Herbst könnte er ins Außenministerium in Kiew wechseln – offiziell ist das noch nicht, aber nach diversen Berichten so gut wie sicher. Dann ist er weg, das mag alle freuen, die Melnyk so sehr gestört und gereizt hat. Und es ist auch in Ordnung, denn zuletzt hat der unkonventionelle Diplomat wirklich Mist gebaut und seinem Land keinen guten Dienst erwiesen. Nur seine gleichzeitige Beförderung ist schwer zu verstehen. Vielleicht so: Wie ein Einknicken nach all den Anfeindungen soll es nicht aussehen, aber das Problem ist erkannt. Und es sind nicht seine Pöbeleien gegen "pseudointellektuelle Versager", die der Ukraine in offenen Briefen und Talkshows gern Ratschläge erteilen. Es sind nicht seine durchaus unverschämten Anwürfe gegen deutsche Politiker bis hoch zum Kanzler, dem er schon mal zuschrieb, der Ukraine "das Messer in den Rücken" zu stoßen, oder ihn als "beleidigte Leberwurst" verhöhnte. Diesmal geht es nicht um Stil, sondern um Substanz. "Kein Massenmörder von Juden und Polen" Zur aktuellen Kontroverse um seine Äußerungen in einem Interview schrieb Melnyk zwar: "Die Ukrainer brauchen keine postkolonialistischen Geschichte-Tipps aus Deutschland" – aber wenn aus Israel von einer Verharmlosung des Holocausts die Rede ist und Polen seine Äußerungen absolut inakzeptabel nennt, wenn das ukrainische Außenministerium schnell offiziell auf Distanz gehen muss, dann kann das historische Bild des Botschafters nicht ganz sauber sein. Jetzt weiß man also, dass Melnyks ganz private Meinung die ist, dass der damalige ukrainische Partisanenführer Stepan Bandera, dessen Organisation Ukrainischer Nationalisten teils mit den Nazis kollaborierte und dessen radikale Anhänger maßgeblich an antisemitischen Pogromen beteiligt waren, "kein Massenmörder von Juden und Polen" war: "Ich bin dagegen, dass man all die Verbrechen Bandera in die Schuhe schiebt." Deutsche, polnische und israelische Historiker hätten daran mitgewirkt, ein falsches Bild von ihm zu zeichnen. Er sei der "Inbegriff des Freiheitskämpfers in der Ukraine". Das ist schon ein starkes Stück. Bandera mag die Befehle nicht gegeben haben, die ethnischen Säuberungen folgten seiner Ideologie. Nun ist das Verhältnis der Ukraine zu diesem Teil ihrer Geschichte grundsätzlich schwierig. Um Bandera, der eben auch für die Unabhängigkeit als Staat und Nation steht, rankt sich inzwischen fast eine Art Kult, zahllose Straßen wurden nach ihm benannt, es entstanden viele Denkmäler vor allem in der Westukraine, an seinem Grab in München legte 2005 auch Melnyk Blumen nieder und nannte ihn "unser Held" – die seit einigen Jahren neu aufkeimende Glorifizierung des Befreiungskampfs unter mutwilliger Ausblendung der Verbrechen ist bisweilen grotesk. Aber in der ukrainischen Gesellschaft wird inzwischen offen über die Widersprüche diskutiert, gerade die jüngeren Generationen sind an differenzierter Aufarbeitung interessiert – Melnyk scheint es bei diesem Thema nicht zu sein, denn eigentlich weiß er ja, wie man sich unmissverständlich ausdrückt. Zweifel am Geschichtsbild bleiben Dass ihm zumindest das nicht gelungen war, musste er zwar letztlich auch erkennen. Aber erklären konnte er sich trotzdem mehr schlecht als recht. Die Vorwürfe gegen ihn nannte er "absurd" und schrieb: "Jeder, der mich kennt, weiß: Immer habe ich den Holocaust auf das Schärfste verurteilt." Er verwies auf Gedenktagsreden und sagte der FAZ, die Juden seien "ein untrennbarer Teil der Geschichte meiner Heimat, ein fester Bestandteil unserer DNA". Aus der Welt zu schaffen waren die Zweifel an seinem Geschichtsbild so nicht mehr. Das alles mag für sich genommen bereits schwer tragbar für einen Diplomaten in Berlin sein, keine Frage. In der Lage, in der sich die Ukraine heute befindet, ist es allerdings besonders heikel. Jetzt, da gegen den russischen Angriff jede Unterstützung für das Land überlebenswichtig ist, kann die Regierung in Kiew kein Interesse daran haben, wichtige Verbündete wie Polen zu verärgern. Und auch wenn Melnyks rauflustige Kommunikation in Deutschland mit dafür gesorgt haben dürfte, dass die Forderungen und Bedürfnisse der Ukraine ernst und wahrgenommen werden: Gerade hier das russische Narrativ zu befördern, die Ukrainerinnen und Ukrainer seien ein Haufen beinharter Faschisten, kann sich das Land nicht leisten – und einige Reaktionen auf Melnyks Äußerungen zeugen genau von diesem verqueren Blick. Ob solche Überlegungen ausschlaggebend waren und sind für die Entscheidung, den Botschafter wegzubefördern, ist nicht klar. Aber sie sind angemessen. Manche mögen es auch so sehen: Nach all dem Streit haben die diplomatischen Beziehungen mit der Ukraine etwas Ruhe verdient. Es gibt sicher einigen Bedarf für Versöhnung. Wünschenswert bleibt trotzdem, dass ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin sich auch in Zukunft mit notwendiger Kritik an der deutschen Politik nicht zurückhalten wird. Die Ukraine braucht hierzulande eine starke Stimme – also eine, die nervt. Außerdem: Wer glaubt, Melnyk verschwinde jetzt aus den Debatten, die so wehtun, freut sich womöglich zu früh. Auch aus Kiew wird er sich zu Wort melden, mit ungebrochener Autorität. Vielleicht wird man ihn sogar darum bitten.