Wednesday, July 6, 2022

Großbritannien: Zwei Rücktritte innerhalb weniger Minuten

SZ.de Großbritannien: Zwei Rücktritte innerhalb weniger Minuten Von Michael Neudecker, London - Gestern um 21:32 Der britische Gesundheitsminister Sajid Javid und Finanzminister Rishi Sunak treten am Dienstagabend zurück. Für Boris Johnson ist das ein heftiger Rückschlag - seine Zukunft ist nun fraglicher denn je. Zwei Rücktritte innerhalb weniger Minuten Der Wortlaut der Briefe ist vernichtend. "Ich muss Ihnen mit großem Bedauern mitteilen, dass ich nicht mehr guten Gewissens in dieser Regierung dienen kann", schrieb Sajid Javid, der britische Gesundheitsminister, an seinen Chef Boris Johnson. Rishi Sunak, der Finanzminister, formulierte: "Die Öffentlichkeit erwartet zu Recht eine Regierung, die ordentlich, kompetent und seriös arbeitet." Er glaube fest daran, dass "diese Standards es wert sind, dafür zu kämpfen, und deshalb trete ich zurück". Schlechte Nachrichten prallen an Boris Johnson immer schon ab wie Steine an einer Stahlwand, aber zwei Rücktritte von zwei der wichtigsten Minister in seinem Kabinett innerhalb nur weniger Minuten - das ist selbst für Johnson ein Problem. Dabei war die zeitliche Abfolge der Ereignisse am Dienstag bemerkenswert. Es begann damit, dass Simon McDonald, ein ehemaliger hochrangiger Beamter des Außenministeriums, auf Twitter einen Brief veröffentlichte, in dem er im Grunde klarmachte, dass Johnson oder zumindest sein Team in den vergangenen Tagen bewusst gelogen hatte. Es ging dabei um die Affäre um Chris Pincher, jenen Abgeordneten, den Johnson im Februar zum Vize-Chef des mächtigen Whip-Büros gemacht hatte. Das Whip-Büro kümmert sich darum, dass die Abgeordneten die Regeln und Standards einhalten und bei Abstimmungen nicht von der Parteilinie abweichen - Pincher aber verfolgen seit Jahren Anschuldigungen, er habe andere Männer sexuell bedrängt. Am Donnerstag vergangener Woche trat Pincher nach einem Vorfall zurück, bei dem er in einem Klub zwei Männer belästigt haben soll, mehrere Betroffene meldeten sich danach öffentlich und schilderten Pinchers Benehmen in den vergangenen Jahren. Johnson aber ließ mitteilen, er habe von all dem nichts gewusst. Falsch, stellte nun Simon McDonald klar: Es habe bereits 2019 eine offizielle Beschwerde gegeben, und zwar kurz nachdem der damalige Außenminister Johnson Pincher in sein Ministerium geholt hatte. Johnson sei davon unterrichtet worden. Die Entschuldigung des Premiers in der BBC überzeugte nicht mehr Die Frage, was Johnson wusste, als er Pincher im Februar diesen Jahres beförderte, ist seit Tagen die meist gestellte in der Westminster-Blase, schließlich geht es dabei um ein Kernthema politischer Führung: den Umgang mit moralischen Grundregeln. Johnson soll Witze gerissen haben, als er auf Pinchers Probleme hingewiesen wurde. Am Dienstagnachmittag sagte das Kabinettsmitglied Michael Ellis, der die Regierung im Unterhaus vertrat, in einem seltsamen Verteidigungsversuch, Johnson habe sich leider nun an jene Beschwerde 2019 gegen Pincher "nicht mehr erinnert". Daraufhin brach die Opposition in lautes Gelächter aus. Am Abend dann gab Johnson der BBC ein Fernsehinterview, in dem er sagte, im Nachhinein betrachtet sei es "ein Fehler" gewesen, Pincher zu berufen. "Ich entschuldige mich, es war falsch", sagte Johnson. Kurz danach versammelte er seine Unterstützer im Teezimmer im Unterhaus, während dieser Versammlung gab Javid seinen Rücktritt bekannt. Ein paar Minuten später folgte Sunak. "Wir waren vielleicht nicht immer beliebt, aber wir waren kompetent in unserer Art, im nationalen Interesse zu handeln", schrieb Javid in seinem Rücktrittsbrief. "Traurigerweise" aber sei die Öffentlichkeit nun zu dem Schluss gekommen, das dies nun nicht mehr der Fall sei, und das Misstrauensvotum im vergangenen Monat habe gezeigt, dass "auch eine große Zahl unserer Kollegen" so denke. Johnson gewann das Misstrauensvotum nur knapp, 148 Tory-Abgeordnete stimmten gegen ihn. Er müsse leider sagen, schrieb Javid weiter, dass ihm nun klar geworden sei, dass diese Situation sich unter Johnsons Führung nicht ändern werde, "und deshalb haben Sie auch mein Vertrauen verloren". Kritiker des Regierungschefs melden sich erfreut zu Wort Sunak schrieb, es sei ihm klar, dass dies womöglich sein letztes politisches Amt sei, aber er habe einfach keine andere Wahl mehr als zurückzutreten: "Wir können so nicht mehr weitermachen." Die Öffentlichkeit, schrieb Sunak, "ist bereit, die Wahrheit zu erfahren". Die Leute wüssten, "wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein, dann ist es nicht wahr", womit er wohl Johnsons Umgang mit der schlechten wirtschaftlichen Situation im Königreich meinte. Johnson spielt den Ernst der Lage gerne herunter, auch im SZ-interview kürzlich stritt er ab, dass Großbritannien wirtschaftlich schwierige Zeiten vor sich hat. "Es ist mir klar geworden, dass unsere Herangehensweisen grundsätzlich zu verschieden sind", schrieb Sunak. Einer der ersten Abgeordneten der Tories, die sich am Dienstagabend zu Wort meldeten, war einer der vielen Kritiker Johnsons. "Ich freue mich, dass zumindest zwei Kabinettsmintglieder erkannt haben, dass wir so nicht weitermachen können", sagte Andrew Bridgen bei Sky News. Am 21. Juli geht das Parlament in Sommerpause. "Boris Johnson muss noch vorher zurücktreten", sagte Bridgen. Nach den Parteistatuten darf ein Tory-Chef nach einem gewonnenen Misstrauensvotum ein Jahr lang nicht noch einmal herausgefordert werden, aber in Westminster hält sich seit Dienstagvormittag hartnäckig das Gerücht, die Partei wolle noch kommende Woche die Regeln ändern.